Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0985 - Libertys Tränen

0985 - Libertys Tränen

Titel: 0985 - Libertys Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
Vom Netzwerk:
den Siedlern und den ansässigen Ureinwohnern, den Siwanoy. Diese waren höchst unzufrieden über die Eindringlinge in ihrem Land. Anne war aber zu stur, sich der Bedrohung zu beugen und woanders zu leben. Eines Tages, so heißt es, griff dann eine Gruppe Siwanoy die Hutchinsons an. Anne und zahlreiche weitere Mitglieder ihres Haushalts und ihrer Familie fielen den Angreifern zum Opfer. Sie überlebten den Tag nicht.«
    »Lass mich raten«, sagte Nicole. »Wurden sie massakriert?«
    Amy verzog das Gesicht. »Den Teil hat man uns in der Grundschule immer erspart, von daher - keine Ahnung. Aber es würde ins Bild passen, richtig?«
    Nicole seufzte. Das würde es tatsächlich.
    »Soweit ich mich erinnere«, fuhr Amy fort, »wurde die Indianergruppe von einem Chief namens Wampage angeführt.«
    »Der Name, den du in den Dimensionslöchern des Seafood Salon zu hören glaubtest.« Ob der Chief, der den Kampf im Gastraum des Restaurants angeführt hatte, just dieser Wampage gewesen war? Gut möglich, befand Nicole. Der Zustand der Leichen auf der Libertys Tränen legte zudem nahe, dass an beiden Orten dieselben Täter gewütet hatten. Und dann war da die Verbindung zu Wampage über Anne Hoeck…
    »Mein Lehrer sagte uns, Wampage sei so stolz darauf gewesen, die berühmte Anne auf dem Gewissen zu haben, dass er sich fortan mit ihrem Namen bezeichnete. Selbst in offiziellen Dokumenten, so erinnere ich mich dunkel, soll er sich ›Anne Hoeck alias Wampage‹ genannt haben.«
    »Hoeck?«
    Amy schüttelte den Kopf. »Frag mich nicht. Vermutlich hat der Chief den Namen seines Opfers falsch verstanden, oder so. Jedenfalls ist das die Geschichte. Gewissermaßen ist sie der Grundstein des heutigen City Islands, deswegen wird sie hier auch im Unterricht gelehrt. Mit der Hutchinson-Siedlung fing sozusagen alles an.«
    Und just als das erste Vierteljahrhundert der heutigen Siedlung gefeiert werden soll, geht das Massakrieren wieder los?, dachte Nicole. Kann das wirklich Zufall sein?
    Abermals sah sie zu dem silbrigen Becher, den Jennings vorhin wütend von sich geworfen hatte. Er lag noch immer am Boden des Gefängnisses.
    Welche Rolle spielte der Kurator wohl in der ganzen Angelegenheit? Als Historiker war die Ortsgeschichte quasi sein Fachgebiet, von daher dürften Wampages und Hutchinsons für ihn keine Fremdwörter sein. Aber qualifizierte das allein ihn schon dazu, die Strippen dieses eigenartigen Stücks zu ziehen? Oder sollte Nicole ihrem Bauchgefühl trauen, dass ihr schon vor Stunden suggeriert hatte, Jennings sei ebenfalls nur ein Opfer - Spielball eines größeren, mächtigeren Gegners? Und…
    Nicole stutzte. Irrte sie sich, oder umgab das kleine Trinkgefäß plötzlich eine blassgrüne Aura?
    »Siehst du das auch?«
    Amy drehte den Kopf zur Seite und atmete scharf ein. »Was passiert hier, Nicole?«, fragte sie besorgt.
    »Ich schätze, das werden wir gleich sehen.« Nicole winkelte die Beine an und robbte auf den Becher zu. Je näher sie ihm kam, desto deutlicher bestätigte sich ihr Verdacht. »Das ist so grün wie das angebliche Wetterleuchten oben in den Wolken«, murmelte sie. Neugierde hin, Neugierde her - am Besten hielt sie einigen Abstand zu dem Ding, ansonsten lief sie Gefahr…
    Dann geschah es. Die Taubheit, die augenblicklich von ihr Besitz ergriff, sowie sie sich im Becher gespiegelt sah, registrierte Nicole schon gar nicht mehr.
    Auch die plötzlich auf ihren Geist einprasselnden Bilder - Bilder voller Hass, Gewalt und unmenschlicher, weltenvernichtender Stärke - nahm sie nicht wirklich wahr, nicht bewusst. Doch sie hinterließen einen Eindruck auf ihrer Seele.
    Bis…
    »Nicole!«
    Amy rief nicht, Amy kreischte regelrecht. Und zwar so heiser, als täte sie das schon eine ganze Weile.
    Nicole blinzelte verwundert und drehte den Kopf um. »W… Was ist denn?«
    »Oh, Grundgütiger.« Die Polizistin seufzte so erleichtert, dass es fast wie ein Schluchzen klang. »Endlich. Ich versuche seit bestimmt zehn Minuten, dich zu erreichen. Was war das da eben?«
    »Was denn?« Verwundert registrierte Nicole, dass das grüne Leuchten wieder verschwunden war. »Ich verstehe nicht.«
    Amy sah sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Weißt du das etwa nicht? Mädchen, du hast reglos dagesessen und auf diesen Becher gestarrt. Minutenlang. Als wärst du im Wachkoma oder so was. Ich hab dich gerufen, angebrüllt, sogar getreten - alles ohne jede Reaktion.«
    Konnte das wahr sein? Hatte dieses Ding, was immer mit ihm

Weitere Kostenlose Bücher