0988 - Das Labyrinth von Eden
Ast.
Da ist jemand. Ich bin nicht der einzige Nachtschwärmer, dachte William. Vielleicht der Professor mit seiner Frau.
Nach ihnen zu rufen, wäre völlig unpassend gewesen. Wenn sie romantischen Gefühlen freien Lauf lassen wollten, war Diskretion die erste Butler-Pflicht.
Er beschleunigte seinen Schritt und wollte sich in einem Bogen zurück zum Ausgang des Gartens begeben. Für heute war es ohnehin genug, die Müdigkeit machte sich in einem ersten Gähnen bemerkbar.
Als er um eine Hecke bog, kam eine Sitzbank in Sicht, wie es mehrere über den Garten verteilt gab.
Im Sternenschein sah er eine Gestalt darauf sitzen, die er selbst als Schattenriss erkannte.
»Madame Claire!«
»William!« Die Überraschung schien ganz auf ihrer Seite zu sein. »Auch noch unterwegs? Dann waren Sie das! Komm, setz dich zu mir. Lassen Sie uns ein bisschen plaudern. Ich bin irgendwie unruhig, eigentlich wollte ich schon längst im Dorf zurück sein.«
»Wir hatten uns für heute schon voneinander verabschiedet.«
»Ich weiß, ich weiß.«
William überwand seine Scheu und setzte sich mit gebührendem Abstand neben die Köchin. »Wie meinten Sie eben, wenn ich fragen darf? Sie sagten: ›Dann waren Sie das‹.«
»Ich höre schon eine ganze Weile immer wieder Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte.« Sie zeigte in die Richtung, die sie meinte.
»Von dort komme ich gar nicht«, erwiderte er. »Ich komme von da.« Er wies in den entgegengesetzten Bereich des Gartens. »Dann sind es wohl doch…« Er teilte ihr seine Vermutung mit.
»Oh«, reagierte sie prompt und erhob sich. »Dann sollten wir nicht stören.«
»Das war auch mein Gedanke. Ich war gerade dabei, den Garten wieder zu verlassen. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«
Auch William war wieder aufgestanden.
Madame Claire hakte sich bei ihm ein. Kurz darauf verschwanden sie im Schloss.
***
Das Mädchen mit der Regenbogenhaut wartete, bis der Butler und die Lady nicht nur außer Sicht-, sondern auch außer Hörweite waren. Dann setzte Carrie ihren eigenen Weg durch den Garten fort.
Ihre Augen waren geschlossen, als würde sie schlafwandeln. Aber ihr innerer Kompass leitete sie sicher zu einer verriegelten Tür in der Schlossmauer.
Da Carrie keinen Schlüssel besaß, setzte sie kurz ihre Fähigkeit ein und wünschte sich auf die andere Seite.
Dort materialisierte sie auf der zum Tal hin abfallenden Böschung, kam leicht ins Straucheln, fing sich aber und blickte nach oben. Die Außenmauer war rundum mit Efeu bewachsen; sein Wuchern wurde in regelmäßigen Abständen eingedämmt, aber es setzte sich immer wieder durch. Schattenhaft klammerten sich die blättrigen Ausläufer ans Gestein.
Mit geschlossenen Augen stand Carrie minutenlang nur da. Irgendwann schien es, als würde etwas über die Mauer wischen - danach war sie frei von jedem Bewuchs.
Aber schon wenige Momente später kehrten die Schatten der Ranken zurück.
Carrie kehrte in den Schlossgarten zurück und von dort aus auf ihr Zimmer, in das noch warme Bett.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, erinnerte sie sich an keine Sekunde ihres nächtlichen Ausflugs, dessen Folgen auch noch einige Zeit unbemerkt bleiben sollten.
***
»Heute will ich die Stärke deiner neu entdeckten Fähigkeit näher ausloten«, sagte Zamorra bei einem weiteren Treffen in seinem Arbeitsraum.
»Dinge verschwinden zu lassen?«
Er nickte. »Das größte mir bekannte Objekt ist bislang das Bett. Hast du dich zwischenzeitlich noch an etwas anderem erprobt?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Die Antwort veranlasste Zamorra zu einem säuerlichen Lächeln, und er dachte: Das ist das Problem. Wer garantiert uns, dass nicht ständig irgendwo auf der Welt plötzlich Dinge scheinbar im Nichts verschwinden - und hoffentlich ebenso unvermittelt wiederkehren -, ohne dass wir hier im Schloss überhaupt etwas davon bemerken? Wer garantiert, dass deine Fähigkeit, Schätzchen, sich nicht immer mehr verselbstständigt und nicht einmal du selbst es mitbekommst, wenn sie Orte, fern von hier, ins Chaos stürzt ?
Die M-Abwehr beschränkte sich auf Schwarze Magie. Sie würde nicht verhindern, dass die Kräfte, die Carrie freisetzte, auch nach draußen drangen und sich sonst wo auf der Welt manifestierten. Solange sie ihre Verschwindikus-Gabe also nicht in vollem Umfang zu kontrollieren vermochte, stellte sie eine Gefahr für ihre Umwelt dar.
Vielleicht sollte ich sie unter eine ähnliche Glocke packen wie die Regenbogenblume, die sie
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