099 - Das Hochhaus der Vampire
sie entgeistert.
„Mein Monokel“, gab er trocken zurück. „Hauptsache, es zieht die Aufmerksamkeit auf sich, dann ist Hypnose sehr einfach. Die Kerle hätten sich totgeschlagen, denn auf so etwas sind sie dressiert. Es sind dieselben, die auch Jerry weggeschafft haben. Deshalb die kleine Abreibung, die ich ihnen zugedacht habe.“
„Sie werden mir unheimlich“, flüsterte Ann.
„Als Medizinerin im sechsten Semester dürfte Ihnen Hypnose nicht fremd sein.“
„Wenn sie so aus dem Handgelenk heraus geübt wird, doch!“ beharrte sie. „Was nun?“
„Ich möchte herausfinden, wo die kleinen Vampire sind. Nach allem, was ich von Ihnen weiß, treten sie nur bei Nacht auf. Tagsüber müssen sie in anderer Gestalt irgendwo ein ganz normales Leben führen, als Kinder vermutlich.“
„Schulkinder, meinen Sie?“ fragte Ann zweifelnd.
Er wiegte den Kopf.
„Nach ihrer vermutlichen Größe zu schließen dürften sie kleiner sein. Gibt es hier vielleicht einen hauseigenen Kindergarten?“
„Bestimmt, hier gibt es alles. Jerry sagt, daß die Hochhäuser fast autark sind, mit Telefonzentrale, Versorgung, Restaurants, Kindergarten, Kino. Ich könnte in der Zentrale nachfragen.“
„Tun Sie das, Ann.“
Sie gingen in Jerrys Apartment zurück, und sie telefonierte.
„Flur E der dritten Etage“, gab sie dann bekannt. „Ein Tageskindergarten für das Vorschulalter. Das könnte passen, nicht wahr?“
„Ja. Ideal für eine Brutstätte kleiner Vampire, wenn man sie auch tags unter Aufsicht hat und beeinflussen kann. Ich fürchte, wir haben noch nicht die rechte Ahnung, wie weit die Gegenseite schon in diesem Block vorgedrungen ist und ihren Einfluß etabliert hat. Ab jetzt sollten wir doch noch vorsichtiger sein. Kommen Sie!“
Jerry Boland hatte sich wieder hingelegt.
Er genoß die Stille. Heute kehrte niemand die Kieswege. Vom Fenster des Untersuchungszimmers hatte er gesehen, daß die Klinik in einem großen Park lag, mit weiten, sanften Rasenflächen und einem prächtigen, alten Baumbestand. Hätte er draußen umher gehen können, wäre der Aufenthalt ein Genuß gewesen. Gar zu lange hatte er kein Grün mehr gesehen, seine Füße nicht mehr auf weiches Gras gesetzt.
Sogar ein paar Vögel hatten gezwitschert, waren jetzt aber verstummt. Jerry Boland streckte sich in seinem Bett und betrachtete die Wand. Jetzt, am hellen Tag, hatte er keine Befürchtungen, daß dort plötzlich eine Gestalt auftauchen würde, von der er nicht wußte, ob sie seinem Unterbewußtsein entsprungen war oder auf eine andere, geheimnisvolle Weise existierte.
Seine Gedanken gingen ins das Apartment in Block B der Woodcroft Mansions zurück. Je länger er über seine Erlebnisse nachdachte, desto fester wuchs in ihm die Überzeugung, daß er etwas Reales gesehen hatte. War es denn nicht möglich, daß sich in einem Hochhaus aus Stahl und Beton neue Lebensformen bildeten? Mutationen irgendwelcher Tiere, die in der warmen Luft der Schächte lebten, sich vom Abfall in den Müllschluckern ernährten? Er wußte zwar, daß die Entwicklung neuer Arten in der Natur oft sehr lange Zeit benötigt. Aber vielleicht war sie durch besondere Umstände hier verkürzt? Hochhäuser gab es schon seit mehr als hundert Jahren. Sie hatten nicht nur der Architektur neue Probleme beschert, sondern auch der Soziologie, der Medizin, warum eigentlich nicht der Zoologie?
Jerry versuchte, sich das Bild des bleichen Wesens noch einmal vor Augen zu führen. Er erschauerte dabei, mußte aber zugeben, daß es mit seiner Gedankenkonstruktion gut übereinstimmte. Die übergroßen Augen für das stete Dunkel oder Dämmerlicht in den Schächten, die weißliche Haut wegen des fehlenden Tageslichts, lange Gliedmaßen, um sich an den glatten Wänden festklammern zu können, es war alles vorhanden gewesen.
In seine Überlegungen schob sich das Bild des alten Mannes, der in der vergangenen Nacht da drüben gesessen hatte. Überreizte Phantasie? Unbewußte Steuerung von Handlungen, die er im Halbschlaf nicht kontrollieren konnte? Selbst den Namen ‚Davidson’ konnte er irgendwann einmal gelesen oder gehört haben, er war ins Unterbewußtsein versunken und heute nacht eben wieder aufgetaucht. Ebenso wie die Fähigkeit, Spiegelschrift zu schreiben. Nachtwandler, so hatte er gelesen, balancieren ja auch auf schmalen Gesimsen, obwohl sie sich in wachem Zustand schon auf einer breiten Brücke unsicher fühlen.
Aber wie kam dann der Drudenfuß auf dem Papier des
Weitere Kostenlose Bücher