099 - Das Hochhaus der Vampire
außer Jerry Boland noch jemand in diesem Bau?“
„Höchstens Mrs. Kant. Sie wohnt im Apartment neben Jerry.“
„Besehreiben Sie sie!“
„Vielleicht fünfzig, scharfe Augen, scharfe Zunge, ziemlich nachlässig gekleidet.“
„Sehr gut. Fahren wir hinauf!“
„Was versprechen Sie sich von der alten Hexe?“
Davidson lachte sie an.
„Sie sagen es selbst.“
Sie brauchte eine Weile, bis sie darauf kam.
„Meinen Sie im Ernst, daß es auch noch Hexen gibt?“
„Die Kirche ist davon überzeugt, daß sogar der Teufel existiert“, antwortete Davidson diplomatisch.
Jerry Boland hatte ebenfalls gefrühstückt, und seine Gedanken waren nicht unbedingt erfreulich. Gewohnt, alle Dinge seiner Umgebung rationell zu erklären, kam er mit den Ereignissen der Nacht nicht ganz zurecht. Der durchsichtige Arzt auf seiner Bettkante mochte wirklich ein Bild seines Unterbewußtseins gewesen sein. Wie aber kam der Name „Davidson“, mit Zahnpasta geschrieben, auf den Spiegel?
Jerry gestand sich zu, daß er nachtwandelnd aufgestanden sein konnte. Vielleicht hatte er auch den Besuch des alten Mannes geträumt, in einer Art Wunschdenken, um sich wegen Ann zu beruhigen. Und dann hatte er sich selbst beweisen wollen, daß der Traum Wirklichkeit war, solch komplizierte Zusammenhänge gibt es. Aber was ihn befremdete, war die Tatsache, daß „Davidson“ ihm völlig unbekannt und das Wort in Spiegelschrift geschrieben war, die er keinesfalls flüssig beherrschte.
Er blickte zum Spiegel hinüber und sah noch immer die matte Spur auf dem Glas.
Die Schwester stand im Raum.
„Mr. Boland, würden Sie bitte zur Untersuchung kommen?“ sagte sie sanft und hielt ihm einen weißen Kittel hin. Er stand auf, schlüpfte in den Mantel und in die weißen Galoschen und folgte ihr.
„Wie geht es Ihnen heute morgen?“ fragte der Arzt forschend. „Nehmen Sie Platz!“
„Danke, ganz gut“, sagte Jerry. „Bis auf die Tatsache, daß ich gestern eine Weile bewußtlos war. Es ist unangenehm, wenn man sich an eine bestimmte Zeitspanne nicht erinnern kann.“
„Warum?“
„Ich weiß nicht recht, vermutlich eine Erziehungssache. Man soll sich unter Kontrolle halten, denke ich.“
„Und was ist mit den Träumen?“
Jerry schwieg. Bis gestern hatte er Träume für unverbindliche Spielereien des Unterbewußtseins gehalten, aber auf einmal war er sich nicht mehr sicher. Der Arzt stand auf.
„Wir wollen eine Hirnstrommessung machen. Leben Sie sich bitte hin, und entspannen Sie sich. Als Physiker wissen Sie ja wohl, daß das nichts Gefährliches oder Unangenehmes ist, nicht wahr?“
Jerry legte sich auf das Ledersofa. Die Schwester befestigte die Elektroden und schloß sie an die Kabelbündel an. Dann ging sie zu dem Aufzeichnungsgerät am Fenster und legte den langen Papierbogen ein.
„Erzählen Sie irgend etwas Belangloses“, forderte ihn der Arzt auf. Jerry dachte nach. Was war schon belanglos? Fand nicht bei genauem Hinsehen alles seine Bedeutung, hatte nicht alles versteckte Bezüge?
„Der Tee“, sagte er, „so wie er schmeckt, könnte ich mir denken, daß Sie zuweilen die ältesten Insassinnen Ihrer Anstalt hinaus schicken, um verdorrte Blätter einzusammeln.“
„Weiter!“
„Weiter, die werden dann in einer Bodenkammer aufbewahrt. Meine Großmutter hat das immer mit ihren Kräutern gemacht. Im Sommer roch der ganze Boden süßlich, fast betäubend. Und wenn ich Halsweh hatte oder eine Erkältung, ging sie hinauf und holte Johanniskraut und Kamille und kochte mir einen Tee.“
„Und anderntags waren Sie gesund?“
„Ich glaube, ja.“
Im Untersuchungszimmer war es ganz still, bis auf die Geräusche der Maschine. Jerry hörte nicht einmal die Schwester atmen. Um so heftiger traf ihn die nächste Frage:
„Wer ist Davidson?“
Jerry spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Das war der Punkt, den er unter allen Umständen vermeiden wollte. Er ballte die Fäuste, schloß die Augen und biß die Zähne wie im Krampf zusammen.
„Wer ist Davidson?“ Die Stimme des Arztes kam wie aus großer Ferne. Und dann ein scharfes: „Stop! Halten Sie die Maschine an, Schwester!“
„Das ist äußerst merkwürdig!“ hörte Jerry den Arzt sagen. Die Schwester kam und befreite ihn von den Elektroden.
„Können Sie aufstehen?“ fragte sie sanft. Sie half ihm. Er stand auf wackligen Beinen.
„Was ist geschehen?“ fragte er unsicher. Der Arzt blickte ihn flüchtig an.
„Sie können gehen, Schwester“,
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