099 - Das Hochhaus der Vampire
Nachthemd auf dem kalten Stein ergehen?
Er löste sich von der Säule und trat einen Schritt vor und versuchte ein paar Kniebeugen. Das Blut schoß in die Adern, es prickelte und schmerzte. Die ersten Schritte waren mühsam, aber es zog ihn mit aller Macht zu der Gestalt des Mädchens.
Er berührte ihre blasse Haut, sie war kalt. Den Puls konnte er kaum fühlen. Als er eines ihrer Augenlider hochzog, starrte ihn eine nadelfeine Pupille an. Offensichtlich hatte man das Mädchen unter Drogen gesetzt. Vorerst war er machtlos.
Gehetzt sah er sich um. Es war möglich, daß ihn Fernaugen überwachten.
Mit bloßen Füßen tappte er den Gang entlang. Bald öffnete sich vor ihm eine neue Halle. Auch sie hatte alte, gemauerte Wände, und die Decke wurde von mächtigen Stützen getragen. Hin und wieder warf eine vergitterte Lampe hoch oben ihren schwachen Lichtschein in den Raum.
Er verhielt und lauschte. Jetzt hörte er auch wieder das Wasser. Vielleicht gab es Zuflüsse, durch die er entkommen konnte? Kanäle, die nach draußen führten, oder Abflußschächte, die ihm einen Fluchtweg boten, so kalt das Wasser darin auch sein mochte? Er hatte allen Grund, die Drohung mit dem ‚Opfertod’ ernst zu nehmen.
Hinter der Halle gabelte sich der Gang. Zur Linken schien das Wasserrauschen stärker, und er schlug diese Richtung ein. Die Steinplatten, über die er schritt, wurden immer feuchter, und ein leichter Nebel schien in der Luft zu liegen. Bald mußte er an einen Wasserfall geraten. Es war gerade so hell, daß er ein paar Meter weit sehen konnte und nicht befürchten mußte, plötzlich ins Bodenlose zu stürzen.
Die Wände wichen zu beiden Seiten zurück. Er stand in einem Saal, der noch größer war als die anderen. Von drei Seiten zugleich tosten schäumende Wasser aus großer Höhe herab in ein Becken. Kleinere Zuflüsse kamen aus den Wänden. Es roch nicht unangenehm. Jerry war sicher, daß es sich nicht um die Abwasseranlage des Hochhauses handelte.
Jerry hatte nicht viel Ahnung vom Wasserbau. Gelegentlich war ihm von geheimnisvollen Bauwerken etwas zu Ohren gekommen, die man durch alle technischen Zeitläufe hindurch gerettet hatte. Er wußte, daß es mancherorts in großen Tiefen noch Pumpwerke gab, deren hölzerne Schöpfräder durch Jahrhunderte eisenhart verwittert waren und sich immer noch drehten, möglicherweise war dies eine solche Anlage.
Auf keinen Fall kam er hier weiter. Die Wasserwände waren undurchdringbar, und er konnte die Mauern, vor denen sie standen, nicht ersteigen. Es blieb ihm nur der Weg zurück.
Davidson hatte das Hochhaus verlassen und bewegte sich auf einem der Verbindungswege. Rechts und links hatte man die unbebauten Flächen eingeebnet und Gras gesät, aber es schien nicht zu einem richtigen Rasen zu gedeihen.
Es war Abend geworden, und der klare Winterhimmel ließ die Sterne in seltener Pracht über dem Land funkeln. Die Fenster der vier Hochhäuser waren erleuchtet.
Dort, wo eigentlich der fünfte Wohnturm hätte entstehen können, ging der Blick ungehindert auf die Stadt und ins Land hinaus. Auf den fernen Hügeln glühten die offenen Hochöfen eines Stahlwerks. Davidson blieb stehen.
„Hedwige?“ sagte er fragend ins Dunkel einer Nische hinein. Die Gestalt der jungen Frau löste sich vom Hintergrund und kam auf ihn zu.
„Er ist nicht mehr an der alten Stelle“, sagte sie leise. „Die Eule hat den ganzen Abend auf dem Mast da drüben gesessen. Vor einer halben Stunde ist sie plötzlich aufgestiegen, und jetzt kreist sie da drüben. Nein, sie ist schon wieder etwas weiter rechts!“
Davidson strengte die Augen an und erkannte den großen Vogel.
„Der Punkt, über dem sie sich bewegt, wandert“, stellte er fest. „Was kann das bedeuten?“
„Vielleicht bringen sie Jerry Boland an eine andere Stelle?“
„Vielleicht. Möglicherweise hat er sich aber auch befreien können und sucht nach einem Ausweg. Gibt es hier einen Einstieg nach unten?“
„Ich habe keinen gefunden. Mehr zur Mitte hin ist ein Ventilationsrohr. Man hört ein entferntes Rauschen, wenn man hineinhorcht.“
„Das nutzt weder ihm noch uns. Ich fürchte, du mußt noch eine Weile ausharren. Gib bitte in der Kirche Nachricht, wenn sich etwas verändert, ja?“
„Selbstverständlich. Ich hätte beinahe schon angerufen, aber dann spürte ich, daß du kamst. Wie steht es drinnen?“
„Ich habe mit dem Reverend ein bißchen für Ärger gesorgt. Wir haben Weihrauch ins Klimasystem geblasen.
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