099 - Der steinerne Gott
Dorian mußte ihn auf dem Weg dorthin stützen, denn der Tempel kam nicht zur Ruhe. Immer wieder wurde er von neuen Beben erschüttert.
„Die entfesselten Kräfte des Ys-Spiegels haben die Vulkane unter dem Gletschereis aktiviert", rief Grettir. „Wollen Sie sehen, was in diesem Augenblick im Torisdalur passiert?"
Dorian nickte.
Grettir machte auf die Marmorplatte des Tisches einige Zeichen. Der gemaserte Stein wurde milchig, dann durchscheinend. Und Dorian blickte wie durch ein Fenster in das Tal hinaus.
Überall hatte sich der Boden aufgetan. Sprünge verästelten sich blitzartig, wurden zu breiten Spalten, aus denen Rauch- und Schwefeldämpfe quollen. Gestein und Lava wurden mit unheimlicher Wucht in die Luft geschleudert. Asche regnete herab, färbte Eis und Schnee und das letzte Grün im Tal grau und schwarz. Die brodelnde Lava stieg unaufhaltsam.
Das Bild verblaßte. Dann war wieder nur die scheinbar ganz normale. Marmorplatte zu sehen.
„Gibt es für uns keine Möglichkeit zur Flucht?" fragte Dorian den Alten.
„Für mich schon", antwortete dieser. „Aber nicht für Sie, Hunter. Sie müssen im Tempel bleiben und meine Nachfolge antreten."
„Dazu kann mich niemand zwingen."
„Doch. Es muß sein."
„Da mache ich nicht mit." Dorian rannte wie ein Tiger im Käfig hin und her. „Ich werde mich auflehnen. Ich … Kapieren Sie doch, Grettir, daß man mir nicht gegen meinen Willen diese Verantwortung auf bürden kann! Ich wäre unter diesen Voraussetzungen ein schlechter Hermes Trismegistos. Was sollte mich daran hindern, Hermons Macht zu meinem Vorteil auszunutzen?"
„Ihr Gewissen, Hunter. Zuerst werden Sie unter Zwang handeln, doch irgendwann werden Sie zur Einsicht kommen. Es war bei mir und Ihren anderen Vorgängern nicht anders."
„Aber…" Dorian fehlten die Worte, um sinnvoll argumentieren zu können. „Es gibt für mich noch so viele wichtige Dinge zu regeln. Es sind keine weltbewegenden Dinge, sondern unbedeutende private Angelegenheiten, die aber für mich und die anderen Betroffenen von eminenter Wichtigkeit sind."
Er dachte an Coco. Sie würde auf Gunnarssons Anwesen vergeblich auf ihn warten. Er dachte an seine Freunde, die er vor den Kopf gestoßen hatte, um sich von ihnen lösen zu können. Und auf einmal wurde ihm bewußt, daß es in dieser Beziehung eigentlich nichts zu regeln gab. Niemand würde ihm nachtrauern. Niemand aus der Magischen Bruderschaft, niemand von Basajaun. Und auch bei Sullivan von der „Mystery Press" hatte er sich so unbeliebt gemacht, daß dieser wohl kaum einen Gedanken an sein Schicksal verschwenden würde.
Aber da war noch Coco.
„Grettir", sagte Dorian eindringlich, „Sie glauben, Ihren Plan sehr schlau eingefädelt zu haben. Aber er weist ein paar schwache Punkte auf. Solange ich als verschollen gelte, wird man nach mir suchen. Meine Lebensgefährtin erwartet mich bei Gunnarssons Anwesen. Wenn ich sie nicht treffe, wird sie sich ihre Gedanken machen und Nachforschungen anstellen."
„Sie haben Coco Zamis schon getroffen", erklärte Grettir ruhig.
„Was sagen Sie da?"
„Erinnern Sie sich nicht mehr an Ihren Doppelgänger?" fragte Grettir. „Sie haben selbst mit ihm gesprochen, nur wußten Sie nicht, ob es sich um eine Reflexion oder einen Spuk gehandelt hat. Jetzt kann ich Ihnen die Wahrheit sagen. Es handelt sich um einen Doppelgänger, der Sie im bürgerlichen Leben vertreten soll. Niemand wird erfahren, daß Sie in Wirklichkeit Hermes Trismegistos sind." Dorian wurde blaß. Er mußte sich stützen.
„Sie meinen, ein Doppelgänger wird statt mir mit Coco zusammen leben?" Ihm wurde bei diesem Gedanken fast übel. „Er wird ihr Geliebter sein, sich als Vater meines Kindes ausgeben …"
„Nehmen Sie es nicht so tragisch, Hunter", sprach der Alte ihm zu. „Als Hermes Trismegistos werden Sie bald über solche Schwächen erhaben sein. Gefühle sind eine Schwäche, die Sie sich nicht leisten können."
Dorian schlug mit der Faust auf den Tisch. „Verdammt! Aber noch habe ich Gefühle. Und mir kommt die Galle hoch, wenn ich denke, daß dieses synthetische Monster Coco in den Armen hält." Er unterbrach sich und fragte ruhiger: „Ich habe in einer Vision nur gesehen, wie Coco mit dem Doppelgänger zusammentraf. Wie ist es weitergegangen?"
„Wollen Sie es wirklich wissen? Das wäre, als würde man siedendes Öl auf eine Wunde gießen." „Alles ist mir lieber als die quälende Ungewißheit."
„Nun denn. Diesen einen Dienst will ich Ihnen
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