0992 - Der Judasbaum
beschränkten, wo die primitive Behausung stand, sie verteilten sich auf die gesamte Insel, und damit würden auch er und der Hund mit in den Kreislauf des Grauens einbezogen werden.
Das Boot stand im Schilf. Die durch den Boden ziehenden, unterirdischen und unheimlichen Kräfte waren durchaus in der Lage, den Verbund aufzureißen und für Wellen zu sorgen, die auch das Boot erfaßt und abgetrieben hatten.
Rocky hetzte neben ihm her. Er hätte sicherlich schneller laufen können, doch der treue Hund wollte seinen Herrn nicht im Stich lassen. Deshalb blieb er mit ihm auf einer Höhe.
Die Welt war dieselbe geblieben. Zumindest äußerlich. Für Harry Stahl hatte sie sich in diesen schrecklichen Augenblicken verändert.
Er konnte nicht mehr daran glauben, daß der Untergrund noch der gleiche war wie bei seiner Ankunft. Wenn er auftrat, kam es ihm vor, als hätte er in ein Loch getreten, das sich dann blitzschnell wieder um seine Knöchel schloß, so daß er Mühe hatte, den Fuß wieder anzuheben.
Er gab nicht auf.
Er lief und kämpfte weiter, denn das Laufen kam ihm allmählich wie ein Kampf gegen die Tücken der Umwelt vor. Selbst Rocky lief nicht mehr so leichtfüßig dahin. Auch er hatte Schwierigkeiten mit dem Untergrund, der zäh an seinen Pfoten klebte.
Sein heiseres und wütendes Bellen begleitete ihre Flucht über die kleine Insel hinweg.
Harry drängte es danach, einen Blick zurückzuwerfen. Er tat es nicht. Die Angst, Zeit zu verlieren, war einfach zu groß, und so eilte er weiter, innerlich stark angespannt und auf jede andere Begebenheit achtend. Deshalb fiel ihm auf, daß sich die Erde wieder unter seinen Füßen bewegte. Er hörte zwar kein Grummeln oder Donnern aus der Tiefe, aber diese Vibrationen bildete er sich ebenso wenig ein wie die in der Behausung des Killers.
Was daraus entstanden war, hatte er erlebt, und dieses Grauen breitete sich aus und schien ihn einzuholen.
Es war lebenswichtig, daß er noch schneller lief. Er trieb sich selbst und den Hund an. Seine Stimme war kaum zu verstehen, denn nur ein Keuchen drang aus dem Mund. Sogar bei ihm war die Zunge aus dem Mund hervorgeschlagen, da gab es kaum einen Unterschied zu seinem vierbeinigen Begleiter und Lebensretter.
Einmal hatte ihm Rocky das Leben gerettet. Ein zweites Mal würde es wohl kaum gelingen.
Harry rannte weiter. Die Angst peitschte ihn voran. Er wollte nicht mehr auf das verdammte Schwanken des weicher gewordenen Untergrunds achten, für ihn allein zählte der Gürtel aus hohem Sumpfgras, der die Insel bisher geschützt hatte.
Bisher, wohlgemerkt. Das konnte sich rasch ändern, da die anderen Kräfte einfach zu stark waren.
Harry sah den Gürtel bereits. Wegen seiner hektischen Laufbewegungen tanzte er vor seinen Augen auf und nieder.
Zur Angst gesellte sich noch das Pech. Plötzlich hatte er den Eindruck, auf ein Stück Eis getreten zu sein. Glatt wie Seife präsentierte sich der Untergrund, und der Agent schaffte es nicht mehr, sich rechtzeitig genug zu fangen.
Sein rechtes Bein kam ihm vor, als sollte es vom Körper abgerissen werden. Zur Seite hin glitt es weg, und da gab es nichts mehr, an dem sich Harry hätte festhalten können. So fiel er hin und rutschte über den seifigen Boden noch ein Stück weiter, bevor er mit der rechten Gesichtshälfte zuerst in einer kalten Wasserpfütze landete.
Harry wußte, daß er sich hochrappeln und weiterrennen mußte.
Daß er es nicht sofort tat, hatte seinen Grund. Er horchte mit einem Ohr auf dem Boden, was unter ihm geschah.
Dieses unheimlich klingende Grummeln war ihm bisher nicht aufgefallen. Jetzt erinnerte es ihn an ein unterirdisches Gewitter, dessen Kräfte alles in Bewegung versetzt hatten und nichts mehr so in den Fugen ließen, wie es einmal gewesen war.
Rocky war ebenfalls stehengeblieben. Er schaute sich um. Er heulte, scharrte mit den Vorder- und Hinterpfoten und schleuderte mit Gras vermischte Erdbrocken in die Höhe.
Dann packte er zu, als wüßte er genau, daß nur er noch etwas retten konnte. Seine Zähne schnappten in die Kleidung des liegenden Mannes. Rocky setzte alle Kräfte ein, als er den Agenten in die Höhe zerrte.
Harry wußte genau, was der Hund vor hatte. Er unterstützte ihn so gut wie möglich und stemmte sich mit den Händen sowie den Beinen ab, damit er es Rocky nicht so schwer machte.
Taumelnd blieb er stehen. Mit weit geöffnetem Mund saugte er die feuchte Luft ein. Er fühlte sich schwach auf den Beinen, aber er mußte weiter, sonst
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