0992 - Der Judasbaum
sich aber noch auf dem Weg dorthin befand. Der Hund bekam sie zwischen die Zähne, und wieder mußte er sich höllisch anstrengen und daran zerren.
Harry nutzte die Gunst des Augenblicks. Bevor noch weitere dieser zähen Pflanzenarme aus dem Boden dringen konnten, wuchtete Harry seinen Körper dem Ausgang entgegen. Er sprang dabei mehrmals in die Höhe und zog auch den Kopf ein.
»Rocky!«
Es hätte dieses scharfen Rufes nicht bedurft, denn er Hund wußte genau, was zu tun war. Auch er kannte nur noch die Flucht und war schneller als der Mensch. Dicht vor dem Ausgang überholte er Harry Stahl und hatte noch vor ihm die Hütte verlassen.
Draußen blieben beide stehen. Erst jetzt erlebte Harry die Nachwirkungen. Er fühlte sich zwar nicht am Ende, aber doch ziemlich groggy, zudem war er schweißgebadet und rang mit offenem Mund mühsam nach Luft. Dieser tödliche Kelch war soeben noch an ihm vorbeigegangen, und wenn Rocky nicht gewesen wäre, hätte es bitter für ihn ausgesehen.
Der Hund stand neben ihm.
Harry senkte den rechten Arm. Er streichelte Rockys dichtes Fell.
Das Tier gab für wenige Sekunden ein wohlig klingendes Knurren ab, dann wurde seine und auch Harrys Aufmerksamkeit wieder voll und ganz von der primitiven Behausung in Anspruch genommen.
Die Hütte stand.
Aber sie bewegte sich.
Die in der Erde und im Sumpf lauernden unheimlichen Kräfte und Mächte dachten nicht daran, aufzugeben. Sie drückten sich höher und höher. Sie hatten lange genug gewartet. Jetzt wollten sie sich zeigen. Es war ihnen nicht mehr möglich, noch länger in dieser Tiefe zu lauern, denn in der normalen Welt gab es Beute.
Harry staunte – oder war es Entsetzen, das sich auf seinem Gesicht abmalte? Er wußte es selbst nicht, denn durch den offenen Eingang der Hütte bekam er mit, was die anderen Kräfte mit dem Killer anstellten.
Zacharias wurde im wahrsten Sinne des Wortes von ihm geholt.
Der Hüttenboden war an verschiedenen Stellen aufgebrochen. Dort waren Zweige oder Äste an die Oberfläche getreten, die an helle Arme erinnerten. In ihnen steckte eine immense Kraft, der ein Mensch nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Er war zu einem regelrechten Spielball geworden, und es gab keine Stelle an seinem Körper, die noch nicht in Mitleidenschaft gezogen war.
Er schrie auch nicht. Er wehrte sich nicht, er war einfach nur noch ein Ding, ein Gegenstand.
Über sein eigenes Schicksal dachte Harry Stahl nicht nach und auch leider nicht darüber, daß er auf einer Insel im Sumpf stand, für ihn war nur wichtig, was sich dort in der Behausung abspielte, denn der Boden stemmte sich plötzlich mit einer Brachialgewalt in die Höhe, der selbst dieser normale Druck nichts entgegensetzen konnte.
Er war aufgebrochen und hatte etwas entlassen, daß Harry an eine mächtige dunkle Zange erinnerte, was es allerdings nicht war, sondern starke schwarze Äste, ohne Laub, dafür dunkel und zugleich biegsam wie Gummi. Für sie war der Körper eine ideale Beute.
Sie packten zu. Sie zerrten die Hülle des Killers zu sich heran, und Harry sah auch, daß einige von ihnen wie lange Messer oder Lanzen wirkten, denn für sie bedeutete der Körper kein Hindernis mehr. Sie stachen einfach hindurch und traten auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. So integrierten sie denjenigen, der schon durch den Blutaustausch zu ihnen gehört hatte.
Der Agent verstand die Welt nicht mehr. Aber er war auch kritisch genug, um sich einzugestehen, daß dies erst der Anfang war. Es würde und es mußte weitergehen. Hier waren die Gesetze der Natur auf den Kopf gestellt worden und gehorchten den Vorstellungen eines anderen.
Ja, eines anderen!
Ein Name huschte durch Harrys Kopf.
Mandragoro!
Er wußte über diesen Umwelt-Dämon Bescheid, wie John Sinclair ihn genannt hatte. Mandragoro war derjenige, der an den Menschen Rache nahm, die sich an der Umwelt vergangen hatten.
Hier sah es so aus, als hätte der Killer etwas Schreckliches getan, für das er nun büßen mußte. Für Harry war dies keineswegs der Fahrschein, um sich auszuruhen. Er konnte sich selbst gut vorstellen, daß es weiterging, und diese Insel das magische Zentrum war.
»Okay, Rocky, wir müssen weg, bevor es uns erwischt.« Er gab dem Hund einen leichten Klaps, der sofort begriff und sich zur Seite hin drehte.
Weit war es bis zum Boot nicht, aber die Strecke konnte verdammt gefährlich werden. Harry Stahl glaubte nicht daran, daß sich die unheimlichen Vorkommnisse allein auf den Teil
Weitere Kostenlose Bücher