0992 - Der Judasbaum
beinahe den Boden unter den Füßen verloren, als ich Harry Stahl entdeckte…
***
Jetzt ging überhaupt nichts mehr. Ich wußte auch nicht weiter. Ich hatte plötzlich einen Riß bekommen. Ich schwebte im Vakuum und hörte ein zischendes Geräusch. Es stammte nicht von einem Fremden, sondern von mir selbst, so sehr drängte sich der Atem aus meinem Mund. Den alten Bischof hatte ich vergessen und konzentrierte mich ausschließlich auf die beiden Gestalten, den Mensch und das Tier.
Das war kein Halluzination, aber ich gestand mir ein, daß man mich an der Nase herumgeführt und sogar regelrecht verarscht hatte. Sir James, mein Chef, hatte noch davon gesprochen, daß selbst Harry Stahl in den Fall nicht eingeweiht worden war, und plötzlich sah ich ihn vor mir, auf einem Baum, der aus dem Sumpf emporgestiegen war.
Verdammt, Sir James hätte mir sagen können oder müssen, daß auch Harry Stahl mitmischte. So aber war ich ins kalte Wasser geworfen worden, stand noch auf dem Fleck und wußte instinktiv, daß ich hier nicht bleiben konnte, sondern zu Harry mußte.
Hinein in den Sumpf. Hin zum Baum gehen. Und zwischendurch vom Moor geschluckt werden.
Verdammt trübe und auch miese Aussichten.
Aber der Baum stand da. Er konnte sich nicht auflösen. Er hatte den Sumpf an einer bestimmten Stelle regelrecht aufgeräumt und mußte aus den schlammigen Tiefen an die Oberfläche gestiegen sein, wo er so beherrschend stand.
Ja, er beherrschte die Umgebung!
Er war ein Faktor der Macht. Unerklärlich und unfaßbar. Ein Baum, der möglicherweise lange Zeit in den Tiefen gelauert haben mußte und sich nun zeigte.
Lebte er?
Ich hatte mich wieder fangen und meine Gedanken von Harry Stahl und dem vierbeinigen Begleiter verdrängen können. So konzentrierte ich mich stärker auf die mächtigen Hände, die normal aussahen, aber mir bei näherem Hinschauen nicht so vorkamen.
Daß in den Zweigen ein Mensch aufgespießt steckte, das hatte ich noch hingenommen. Er mußte auf seinem Weg nach oben ein Opfer gefunden und es mit aus dem Sumpf gezerrt haben.
Doch die Hände waren anders. Das sah ich nur, wenn ich sehr genau hinschaute. Es gab Handflächen, Handballen, auch die langen Finger mit den aus den Spitzen hervorschauenden Zweigen, das alles war völlig normal – annormal, aber es gab noch etwas anderes, über das ich stolperte.
Die Hände selbst. Denn sie waren aus bestimmten Dingen geformt, aus – und da irrte ich mich wohl nicht – Körpern.
Ja, sie setzten sich aus menschlichen Körpern zusammen, die dicht zusammengepreßt lagen und so die Hände formten. Dabei sah ich einen nackten Körper, dessen Kopf noch an der linken Seite des Handballens überlappte. Die Arme waren zurückgestreckt und hingen über. In seiner Nähe bewegte sich Harry und der Hund. Über deren Auftauchen war ich noch immer perplex.
Die Stimme des Bischofs störte meine Gedanken. »Das ist der Judasbaum«, flüsterte er. »Jetzt kennen Sie auch mein Geheimnis, Herr Sinclair. Jetzt haben Sie es gesehen. Ich werde zu ihm gehen, und ich werde mich ihm selbst opfern.«
Was er vorhatte, war mir im Prinzip egal. Nur sah ich nicht ein, daß ich ihn laufen ließ, ohne von ihm etwas über die Hintergründe erfahren zu haben. So ein Baum drang nicht einfach aus dem Sumpf hervor. Da mußten schon andere Gründe vorliegen.
»Sie werden nicht gehen, Herr Schneider«, sagte ich. »Noch nicht. Sie werden bleiben.«
Er lachte krächzend. »Und warum sollte ich bleiben?«
»Weil Sie mir noch einiges erklären müssen. Ich will wissen, was mit dem Judasbaum los ist, wie er überhaupt hat entstehen können, und in welch einer Verbindung Sie zu ihm stehen.«
»Es ist der Baum des Verräters.«
»Also Ihr Baum?«
»Ja.«
»Und weiter.«
Der Bischof lächelte. Er hatte sich verändert. Die Depression war verschwunden. Mir kam er vor, als wäre er erleichtert, diesen Baum zusehen. Wie jemand, der sündenfrei nun endlich ein neues Leben führen konnte.
»Der Baum paßt zu mir«, sagte er mit leiser und trotzdem fester Stimme. »Ja, er ist…«
»Zu einem Verräter geworden?« unterbrach ich ihn.
»Sicher. Wir sind beide ein Judas. Er und ich. Können Sie das verstehen, Herr Sinclair?«
»Nein, noch nicht. Aber Judas setzte man mit einem Verräter gleich. Mich würde interessieren, wen Sie verraten haben.«
»Tja, das ist schwer zu sagen. Ich habe verraten und ich bin verraten worden.«
»Fangen wir mit Ihnen an. Wen haben Sie verraten?«
»Eine Frau, meine
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