0992 - Der Judasbaum
Oberfläche hinterließ. Ansonsten war sie sehr ruhig. »Und der Name Mandragoro ist Ihnen noch niemals in den Sinn gekommen?«
»Nein!« Er hatte spontan geantwortet. Es konnte einfach keine Lüge sein. »Wie kommen Sie darauf?«
»Es war nur eine Frage.« Auch wenn mir Roland Schneider negativ geantwortet hatte, so wollte ich es nicht akzeptieren. Mandragoro hatte seine Fühler überall ausgestreckt. Für ihn gab es keine Grenzen. Ich hatte ihn in Manila ebenso erlebt, wie in meinem Heimatland oder auch in Deutschland. Er war ein Dämon, der sich mit der Natur verbunden fühlte und die Umwelt liebte. Er haßte es, wenn auch nur Fragmente oder Teile seines Reichs zerstört wurden. Ging diese Zerstörung zu weit, dann schlug er zurück. Das hatten meine Freunde und ich schon mehr als einmal erleben müssen.
Er hatte Menschenopfer gewollt. Er hatte sich einen Diener gesucht. Auch das paßte zu ihm. Mandragoro nahm keine Rücksicht.
Er zahlte mit gleicher Münze zurück. Mein Verhältnis zu ihm war sehr zwiespältig. Im Prinzip mußte er für mich in Feind sein, und ich auch für ihn. Aber wir hatten gelernt, uns zu akzeptieren. Solange ich ihm nicht direkt in die Quere kam, ließ er mich in Ruhe, weil er wußte, daß ich im Prinzip auf seiner Seite stand. Mandragoro war eben nicht einzuordnen, und es gab ihn in zahlreichen Facetten.
Man konnte manchmal den Eindruck bekommen, als wäre es ihm gelungen, sich zu teilen und sich dabei über den gesamten Erdball zu zerstreuen, um an gewissen Punkten – diesen hier eingeschlossen – Wache zu halten. Für ihn war auf seinem Gebiet so gut wie nichts unmöglich, und deshalb konnte es ihm auch gelungen sein, diesen mächtigen und gleichzeitig unerklärlichen Baum zu bilden, eben den Judasbaum.
»So rächt sich Mandragoro«, murmelte ich.
»Was haben Sie gesagt?«
Ich winkte ab. »Schon gut. Da ich jetzt weiß, um was es geht, können wir weitermachen.«
»Sie wollen demnach noch immer dorthin?«
»Natürlich. Ich muß dahin, Herr Schneider. Zudem kenne ich den Mann, der sich dort auf dem Handteller bewegt. Er ist mein Freund. Wir haben so manchen Fall Seite an Seite gelöst, aber ich weiß nicht, wie er in diese Sache hineingestolpert ist.« Meine Augen verengten sich, als ich auf das Ziel schaute. »Aber ich werde ihn fragen, darauf können Sie sich verlassen.«
»Wie Sie meinen, Herr Sinclair. Nur werde ich dabei sein.«
»Wo steht ihr Boot?«
»Kommen Sie mit.« Ohne ein weiteres Wort hinzufügen, drehte sich der ehemalige Bischof um und ging vor mir her. Ich schaute auf seinen gebeugten Rücken, lauschte dabei dem Patschen unserer Schritte, denn der Untergrund war jetzt mit zahlreichen Pfützen bedeckt, die das abfließende Wasser hinterlassen hatte.
Das war keine feste Erde, auf die ich trat. Ich hatte den Eindruck, als würde der Boden schwanken, aber das lag wohl nur an seiner für mich ungewohnten Weichheit.
Roland Schneider hatte alles gut vorbereitet und auch sein Boot versteckt. Es lag im dichten Ufergras und war erst dann zu sehen, wenn sich jemand in seiner unmittelbaren Nähe befand. Selbst als Schneider stehenblieb, mußte ich schon sehr genau hinschauen, um es überhaupt erkennen zu können.
»Kommen Sie, Herr Sinclair«, sagte er und wollte einsteigen.
»Moment noch.« Ich hielt ihn zurück, obwohl auch bei mir die Zeit drängte. »Ob Sie es verdient haben oder nicht, das mag ich nicht zu beurteilen«, sagte ich und schaute dabei in sein staunendes Gesicht.
»Aber ich möchte Sie warnen und bitten, sich es noch einmal genau zu überlegen, ob Sie mit mir fahren wollen oder nicht.«
Er schaute zu Boden. Er hob dabei auch die Schultern und räusperte sich.
»Nun?«
»Ich werde fahren«, sagte er und war dabei noch blasser geworden. »Einmal muß es ja sein. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal als lebendiger Mensch hier an diesen Ort zurückkehre, aber ich werde mit Ihnen fahren und mich stellen.«
»Gut. Ihnen ist auch klar, daß ich für Ihre Sicherheit nicht garantieren kann?«
»Das versteht sich.«
»Dann steigen Sie ein.«
Er mußte den alten Kahn frisch gestrichen haben, denn beim Einsteigen drang mir der Geruch von Farbe in die Nase. Ich wollte den alten Mann nicht rudern lassen. Er löste das Tau, das er um den Stamm einer schief wachsenden Birke gebunden hatte, die längst keine Blätter mehr hatte.
Bevor er ruderte, schaute ich zurück.
Harry hatte seinen Platz nicht verlassen, und auch der Hund hielt sich noch bei ihm auf.
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