0992 - Der Judasbaum
besonders groß und hatte sich den Umrissen angepaßt. Eine Spitzbogentür aus Holz, das zumindest außen ziemlich verwittert war. Grüne Streifen zogen sich von oben nach unten, als wäre jemand mit einem breiten Pinsel darüber hinweggefahren.
Die Tür war nicht verschlossen. Die alte Klinke bog sich, als ich sie drückte.
Dann stieß ich die Tür auf. Die Angeln hätten dringend geölt werden müssen. Sie gaben schauerliche Geräusche ab, als sie sich bewegten und ich die Kirche betrat.
Düster und feucht war sie. Ein winziger Vorraum nahm mich auf.
Vor mir versperrte mir eine Mauer die Sicht auf den Altar und das kleine Kirchenschiff. Wenn ich dorthin wollte, mußte ich rechts an der Mauer vorbeigehen, was ich aber nicht tat, denn von links und schräg hinter mir hatte ich Schritte gehört.
Sie hatten einen bestimmten Klang. Es war heraus zu hören, daß jemand über eine Treppe oder Stiege hinweg auf mich zukam. Als ich mich drehte, sah ich die schmale Treppe, die wahrscheinlich hoch zum Glockenturm führte, und von dort klangen mir die Geräusche entgegen.
Neben einem schrägen Wandregal blieb ich stehen. Das Regal war mit Zeitungen und Prospekten bestückt.
In meiner Umgebung war es nicht eben hell. Vom Glockenturm her mochte zwar Licht auf die Stufen fallen, das aber reichte nicht bis zum Ende der Treppe, wo ich mich aufhielt und ebenfalls im Düstern stand. So leicht konnte ich nicht gesehen werden.
Es war ein Mann, der die letzten Stufen nahm. Er ging sie vorsichtig, eine Hand schleifte dabei über das Geländer. Der Mann trug dunkle Kleidung. Sein Gesicht war wegen der Schatten noch nicht zu sehen, und ich wußte auch nicht, ob er mich schon entdeckt hatte, da ich ebenfalls im Dunkeln auf ihn wartete.
Vor der Treppe blieb er stehen. Er hatte mich wohl gesehen, denn er drehte sein Gesicht in meine Richtung und sagte: »Ich habe Sie durch das Läuten der Glocke begrüßt.«
Erschreckt hatte ich mich nicht, zumindest nicht sehr, aber die Stimme des längst pensionierten oder ausgeschiedenen Bischofs hatte sehr brüchig geklungen, und mir war der Vergleich mit der eines sehr kranken Menschen in den Sinn gekommen. Ich gab zunächst keine Antwort und lauschte dem Atem des Mannes, der immer schwer über seine Lippen floß, nachdem er tief Luft geholt hatte.
»Sie sind doch John Sinclair, der mir von meinem Freund angekündigt worden ist?«
»Ja, Herr Bischof, das bin ich.«
Ich hörte ihn mehr krächzen als lachen. »Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Sinclair. Lassen Sie meinen Titel weg. Ich bin nicht würdig, ihn noch zu tragen. Selbst an diesem Ort dürfte ich mich eigentlich nicht aufhalten, wenn man es streng nimmt.«
»Deshalb bin ich ja zu Ihnen geschickt worden, um mit Ihnen dar über zu reden, Herr Schneider.«
»Ja, der alte Freund hat es gut gemeint. Ich hätte ihm doch nichts sagen sollen.«
»Jetzt ist es zu spät oder zum Glück noch früh genug. Wie man’s nimmt.«
Der Mann stieß die Luft schnaufend durch die Nase aus. »Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, Herr Sinclair, daß Sie die weite Reise umsonst gemacht haben. Wer immer Sie auch sein mögen, Sie werden nicht dagegen ankommen.«
»Gegen was?«
»Nein, fahren Sie wieder. Ich bitte Sie. Machen Sie sich nicht unglücklich.«
»Das hatte ich nicht vor. Ich habe nur von gewissen Problemen erfahren, mit denen Sie nicht zurechtkommen.«
»Das meint mein Freund.«
»Stimmt es nicht?«
»Ich komme schon damit zurecht. Besonders jetzt, wo ich am Ende meines Lebens angekommen bin. Wissen Sie, ich bin über siebzig Jahre alt und habe viel erlebt. Es wird allmählich Zeit, daß ich mich von dieser Welt verabschiede.«
»Sie gestatten, daß ich das nicht so sehe, Herr Schneider, denn ich kenne Menschen, die wesentlich älter sind als Sie und nicht so abwertend über die Zukunft sprechen oder auch über das Leben, das hinter ihnen liegt. Sie scheinen sich in einer schlechten Phase zu befinden, wenn Sie verzeihen.«
»Ich verzeihe Ihnen alles. Aber es ist wirklich besser, wenn Sie wieder gehen. Sie sind noch jung, Sie sollten Ihr Leben nicht so leicht wegwerfen.«
»Das hatte ich auch nicht vor. Ich möchte nur, da ich schon einmal da bin, mehr über ihre Probleme erfahren. Möglicherweise können wir sie gemeinsam lösen.«
Ich sah, wie er im Dunkeln den Kopf schüttelte. »Nein, das werden wir nicht schaffen.«
»Sollten wir nicht trotzdem einen Versuch starten?«
»Ich möchte nicht mehr.«
»Was stört Sie daran?«
»Die
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