0992 - Der Judasbaum
andere Seite.«
»Welche?«
Er wandte sich ab, wollte einfach nichts wissen. Er wollte auch nicht reden, und so hatte ich das Nachsehen. Allerdings war ich nicht gekommen, um aufzugeben. Meine Neugierde war in den letzten Minuten noch stärker geworden, und deshalb blieb ich am Ball.
»Wissen Sie, Herr Schneider, ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen. Zwar befinden wir uns in einer Kirche, aber in dieser Umgebung ist es mir doch etwas zu ungemütlich. Wie wäre es denn, wenn wir nach draußen gingen.«
»Und dann?«
»Könnten wir uns unterhalten.«
Er senkte seine Stimme. Sie klang so, als hätte er alle Hoffnung verloren »Worüber sollten wir beide schon sprechen, Herr Sinclair? Da gibt es nichts.«
»Erlauben Sie denn, daß ich anderer Meinung bin?«
»Natürlich, die kann ich Ihnen nicht verbieten.«
»Das ist immerhin etwas.« Himmel, war dieser Mann störrisch.
Aber ich war es nicht minder, denn ich hatte wirklich nicht den weiten Weg zurückgelegt, um aufzugeben. Ich wollte ihn aus der Reserve locken, denn mir war im Laufe des Gesprächs immer klarer geworden, daß er sich mit einem schwerwiegenden Problem herumschlug.
»Ich weiß, daß Sie eine andere Meinung haben. Das müssen Sie einfach, Herr Sinclair, aber lassen sie mir die meinige. Und lassen Sie mich auch bitte in Ruhe. Wenn morgen die Sonne aufgeht, wird es mich nicht mehr geben.«
Natürlich wußte ich, was er damit gemeint hatte, aber ich fragte trotzdem nach. »Wie soll ich das verstehen?«
»Das wissen Sie genau.«
»Rechnen Sie etwa damit, dann tot zu sein?«
»Wenn Sie schon so fragen«, sagte er leise und stockend, als hätte er Mühe, jedes Wort zu finden, »haben sie recht, Herr Sinclair. Es wird mich morgen nicht mehr geben, nicht mehr als lebendigen Menschen. Vielleicht anders, aber nicht mehr so.«
»Gratuliere, Herr Schneider.«
Diese Bemerkung hatte ihn aus dem Konzept gebracht. »Wieso gratulieren Sie mir?«
»Das ist ganz einfach. Weil Sie der erste Mensch sind, den ich kennengelernt habe, und mir…«
»Nein, nein, nein.« Er unterbrach mich. »Es ist nicht so, wie Sie denken?«
»Wie dann?«
»Vergessen Sie es einfach. Vergessen Sie unser Gespräch vergessen Sie mich.«
Seine Sturheit ärgerte mich nicht, sie sorgte nur dafür, daß ich ebenfalls stur blieb und nicht nachgab. Obwohl ich ihm gegenüber so tat, denn ich hob die Schultern wie jemand, der aufgegeben hatte, drehte mich dann zur Tür hin und öffnete sie.
Das graue Licht sickerte in diesen kleinen Vorraum hinein. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, daß sich auch der ehemalige Bischof umdrehte, als hätte er Angst davor, von mir gesehen zu werden.
Hier konnte ich das Rätsel nicht lösen. Ich ging deshalb nach draußen und wartete dort ab, was geschehen würde. Ich war mir beinahe sicher, daß er mir folgen würde. Ich konnte ihn durchaus neugierig gemacht haben.
Verändert hatte sich draußen nichts. Noch immer war die Stille beinahe fühlbar. Es lag auch an den Dunstschleiern, die keine Lücke aufwiesen. Sie sahen so aus, als wären sie zu einem unendlichen und wallenden Teppich verknüpft.
Ich war über einen mit Laub bedeckten Feldweg gefahren und schaute wieder dorthin. Weit sah ich nicht, denn auch der Weg lief irgendwann in den Dunst hinein, als wäre er von ihm verschluckt worden. Ich wußte auch, daß der Sumpf nicht weit entfernt lag. Ein tückisches Moor, mit allen Fallen, die man sich vorstellen konnte.
Manchmal so harmlos aussehend, im Prinzip aber tödlich.
Zwei Raben, die auf dem Turm über mir gesessen hatten, waren von ihren Plätzen gestartet, flogen träge durch die Luft und nahmen Kurs auf die Bäume eines nahen Waldes, wo sie dann zwischen dem Geäst verschwanden.
Beim Eintreten in die Kirche hatte ich das Quietschen der Angeln nicht sehr geschätzt. Jetzt dachte ich anders darüber, denn hinter mir öffnete der ehemalige Bischof die Tür, um ebenfalls ins Freie zu treten. Obwohl es mich danach drängte, drehte ich mich nicht um, sondern wartete in aller Ruhe ab.
Das Geräusch verstummte für einen Moment, dann trat es wieder auf. Wahrscheinlich fiel die Tür zu, und wenig später hörte ich die Stimme des Mannes. »Sie sind ja noch immer hier.«
»Klar. Was hatten sie denn gedacht? Ich bin kein Mensch, der so leicht aufgibt.«
»Das scheint mir auch so zu sein.« Er legte eine kurze Pause ein.
Ich wollte ihm eine Frage stellen, als ich seine Schritte hörte. Unter den Schuhen knisterte das Laub, als er auf mich zukam
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