0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
von einer schrecklichen Vergeltung.
Nachgefragt hatte er nie, aber er wußte genau, daß seine Eltern und auch die der anderen Kinder unter einer großen Furcht litten, die vielleicht größer war als die ihrer Kinder. Bei ihnen kam noch eine gewisse Neugierde hinzu.
David Goldman stöhnte leise auf, als er gegen die Tür schaute. Sie war geschlossen. Dahinter, wo der Flur lag, brannte Licht, und ein schmaler, heller Streifen hatte sich in sein Zimmer verirrt.
Dieser Tag hier, der bereits den Nachmittag erreicht hatte, würde etwas Besonderes werden. Daran glaubte David fest. Bisher hatte er nur das Vorspiel erlebt, aber die Dinge, über die er nichts wußte, würden sich ändern.
Das andere würde wieder zurückkehren, daran glaubte er fest.
Es war nie richtig hell geworden. Dafür aber kälter. Und der Nebel hielt die Kälte fest.
Hin und wieder trieben auch Dunstschwaden an den Scheiben entlang.
Da hatte David dann den Eindruck, als wären es verlorene Geister, die mal einen Blick in sein Zimmer werfen wollten, um sich danach schnell wieder aufzulösen.
Ansonsten blieb es still. Abgesehen von einem hin und wieder aufkommenden Brummen oder Singen der Heizung.
David drehte sich nur selten auf die Seite. Zumeist lag er auf dem Rücken, hielt seinen Hubschrauber unter Kontrolle und lächelte dann still vor sich hin. Er freute sich darauf, wieder mit dem Hubschrauber spielen zu können. Dann ging auch seine Phantasie auf Reisen. Dann sah er sich als Pilot in der Kanzel sitzen und mit der Maschine über ferne Länder hinwegfliegen.
Es war schön, sich seinen Träumereien hinzugeben. In den Träumen konnte man vergessen. Da wurden andere Welten aufgebaut, in denen David sich als Held sah.
Er aß nur wenig. Dafür trank er mehr. Der Vitaminsaft stand neben seinem Bett. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um das Glas umfassen zu können, was er immer weniger tat. Selbst diese Bewegung kostete Kraft.
Aber der Durst nahm zu. Und die trockene Luft im Raum hatte bei ihm für spröde Lippen gesorgt, die er hin und wieder mit Speichel befeuchtete, ohne allerdings einen Erfolg zu erreichen.
»David…«
Als er die leise Stimme seiner Mutter hörte, schrak er zusammen. Er war so tief in Gedanken versunken, daß er das Öffnen der Tür überhört hatte.
Etwas mühsam drehte er den Kopf auf die linke Seite. In der Türöffnung zeichnete sich die Gestalt der großen, dunkelblonden Frau ab, die die Hand auf die Klinke gelegt hatte und zögerte, das Zimmer zu betreten.
Sie schaute ihren Sohn an, und es fiel dabei auf, daß ihr das Lächeln schwerfiel.
»Mutter?«
»Hi, David.«
»Hi…«
Mrs. Goldman verließ ihren Platz. Sie betrat das Zimmer und drückte die Tür hinter sich zu. Mit langsamen Schritten näherte sie sich dem Bett des Jungen, blieb dicht davor stehen und beugte sich zu ihm hinab.
Sie lächelte nur immer. Eher schmerzhaft. Dann strich sie mit der Handfläche über Davids Stirn und schüttelte leicht den Kopf.
»Was ist denn, Mum…?«
»Hast du Fieber?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du fühlst dich aber noch immer sehr schwach, wie?«
»Ja, Mum.«
Sie nahm auf der Bettkante Platz. Für einen Moment verdüsterte sich das Gesicht der Frau, deren Augen so unwahrscheinlich blau waren wie nur bei wenigen Menschen. Mrs. Goldman hatte ein schmales Gesicht, und die letzten beiden Wochen hatten sie stark altern lassen. Die Sorgen um das Schicksal ihres Jungen standen ihr ins Gesicht geschrieben und hatten sich wie eine Karte darin eingegraben.
»Ich habe Durst, Mum.«
»Moment. Das ändern wir gleich.« Sie war froh, daß David etwas gesagt hatte. Aus der noch halbvollen Saftflasche goß sie das Glas nicht ganz voll und drückte es an die Lippen ihres Sohnes, der sich etwas aufgerichtet hatte, um so besser trinken zu können.
Mrs. Goldman schaute ihrem Sohn zu, der das Glas mit beiden Händen festhielt. Und sie sah, wie gut es ihm tat, sich auf diese Art und Weise erfrischen zu können. Als er das Glas geleert hatte, stieß er auf und atmete tief durch.
»Möchtest du noch einen Schluck?«
»Nein, nicht mehr.«
Sie nahm ihm das Glas ab und stellte es zur Seite. Dann lächelte sie David an, obwohl es ihr schwerfiel. »Hast du denn etwas geschlafen?« fragte sie.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich konnte nicht, Mum. Ich kann ja auch in der Nacht kaum schlafen. Das ist so komisch.«
»Schlaf tut dir gut.«
»Ich weiß.« David hob die Schultern, als er zum Fenster schaute, als gäbe es dort
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