0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
freuen.«
»Das tue ich auch.«
Helen schluckte. Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Dann schüttelte sie den Kopf und verließ mit hastigen Schritten das Zimmer. Die Tür fiel hinter ihr zu, und die Augen des Jungen blieben noch auf sie gerichtet.
Er hörte sehr wohl, daß seine Mutter draußen weinte, und er wußte auch, daß es seinetwegen geschah. Die Eltern hatten Angst. Sie bangten um ihn. Sie wußten, daß es gefährlich werden konnte, und er wußte es auch.
Die Schritte seiner Mutter erklangen auf der Treppe. David blieb zurück in der Stille des Zimmers. Er dachte an seine Freunde, denen es nicht anders erging als ihm, und er fragte sich, ob auch sie die seltsamen Erlebnisse gehabt hatten.
Diese flüsternden Stimmen, die so hell, so schrill und so anders waren.
Keine richtigen Menschenstimmen. Eher die von anderen Wesen. Von Geistern oder so… Und morgen war der Heilige Abend. David wurde es beinahe übel, als er daran dachte. Er spürte, wie er anfing zu zittern.
Mit offenem Mund holte er Luft, um sich zu beruhigen. Hinter der Stirn pochte es, und dieses Pochen breitete sich in seinem gesamten Kopf aus, so daß es ziemlich schmerzhaft wurde. Er legte seine Hände gegen die Stirn, blieb ruhig liegen und erreichte tatsächlich einen Erfolg, denn das Pochen hörte auf.
Still blieb es aber nicht. Er hörte etwas anderes. Stimmen?
Nein, diesmal nicht.
David richtete sich auf. Er warf einen Blick auf das Fenster, denn er konnte sich vorstellen, daß die ungewöhnlichen Geräusche dort irgendwo ihnen Ursprung hatten.
Wäre das Zimmer nicht so gut geheizt gewesen, hätte sicherlich eine Schicht aus Eis vor dem Fenster gelegen, so aber war das Glas eisfrei, und der konnte hinausschauen.
Es war nichts zu sehen.
Dennoch war jemand da.
Er wußte es genau.
David spürte es so intensiv, daß über seinen Körper ein leichter Schauer rann. Jemand war da und beobachtete ihn. Aber jemand, den er nicht sah. Er konzentrierte sich und ließ dabei den Mund offen. Seine Finger hatte er in das Bettlaken gekrallt, als wollte er es von der Matratze reißen.
»Kommt doch!« flüsterte er. »Kommt doch zu mir, wenn ihr etwas von mir wollt. Los, kommt…«
Sie kamen nicht.
Aber sie waren da.
Denn er hörte sie.
Diesmal anders, denn sie sangen.
Und sie sangen ein Lied, das auch er kannte und sehr oft zu Weihnachten gesungen hatte.
»Christmas Day is Coming…«
***
David Goldman saß in seinem Bett, als hätte ihn die Kälte zu Eis erstarren lassen. Er konzentrierte sich auf den Gesang, auf die Stimmen, und er versuchte dabei, jemanden zu sehen.
Nein, da war nichts.
Aber das Lied war da. Es umschwebte ihn. Er hörte immer wieder denselben Refrain. Sie sangen es im Chor, nur war es für David kein richtiger Chor, denn er hörte sich anders an. Da war nicht so ein großes Durcheinander, denn diese Stimmen hatte niemand trainiert. Sie sangen immer weiter, schrill und auch kreischend. Mal lachten sie dabei, und es hörte sich schadenfroh an, wie bei jemandem, der endlich etwas erreicht hatte, auf das er schon lange hatte warten müssen.
»Christmas Day is coming…«
Immer wieder und immer anders. Mal langsamer, dann schneller, mal höher, mal tiefer und in unterschiedlichen Rhythmen.
David kam nicht mehr zurecht. Er saß noch immer an derselben Stelle im Bett und schaute sich um, da die Stimmen aus unterschiedlichen Ecken zu kommen schienen.
Sie umtanzten und umkreisten ihn. Sie wurden lauter, dann wieder leiser, aber ihnen blieb der böse Unterton erhalten.
Seine Schwäche hatte der Junge vergessen. Er hockte im Bett und schaute sich um. Dabei drehte er sich sogar, ohne den Platz zu verlassen. Er holte scharf Luft. Abgehackt klang sein Atmen. Er wollte auch etwas sagen, aber er kriegte keinen Ton heraus.
Die Stimmen blieben. Die Stimmen sangen. Sie sägten als schrille Laute in seine Ohren hinein und malträtierten ihn, als wollten sie den Inhalt seines Kopfes in Stücke schneiden.
Mit dem Begriff Folter konnte der Zehnjährige nichts anfangen. Was er allerdings im Bett sitzend und allein in seinem Zimmer erlebte, das kam einer Folter gleich.
Tränen rannen über sein Gesicht. Er stöhnte leise. Er wollte nach seiner Mutter rufen. Es war nicht zu schaffen. Etwas drückte ihm die Kehle zu.
Sein Mund bewegte sich. Die Zähne schlugen aufeinander und hinterließen klappernde Geräusche. David bewegte fahrig seine Hände, als könnte er die unheimlichen Sänger doch irgendwo zu fassen bekommen,
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