0998 - Die Welt der verlorenen Kinder
etwas Besonders zu sehen. »Man läßt mich nicht schlafen, glaube ich.«
»Wen meinst du damit?«
»Das weiß ich nicht«, flüsterte er. »Aber das ist einfach so. Sie sind da, und sie lassen mich nicht schlafen.«
Die Frau preßte die Lippen für einen Moment zusammen. Die Antwort hatte sie befürchtet, aber nicht direkt erwartet. Sie kannte die Geschichte. Der verdammte Fluch aus der Vergangenheit nahm allmählich Formen an. Und er würde sich bis zum bitteren Ende hin durchsetzen, das stand für sie fest. Und dann würde auch ihr Kind…
Nein, nur nicht daran denken. Um alles in der Welt nur nicht daran denken. Das ist alles nicht so. Das darf nicht so sein. Gott wird schon ein Einsehen haben. Der Teufel darf nicht noch einmal gewinnen. Heute lebten andere Menschen, die finstere Vergangenheit war vorbei, aber sie gestand sich auch ein, daß sie in der heutigen Zeit einfach zuwenig taten. Sie stemmten sich nicht dagegen. Sie waren ebenfalls zu feige.
Sie ließen alles geschehen. Sie blieben in Paxton. Sie flohen nicht, wie es vielleicht hätte normal sein können. Nein, sie blieben da und schauten zu, wie eine unheimliche Kraft ihre Kinder der Reihe nach übernahm, um sie zu einem schrecklichen Ziel zu führen. »Muß ich sterben, Mum?« Die Worte waren leise gesprochen worden, aber sie erwischten die Frau doch sehr hart. Helen Goldman krampfte sich zusammen. Der plötzliche Schweißausbruch machte ihr zu schaffen. »Was ist denn, Mummy?«
Helen mußte schlucken. »Nichts weiter, David, wirklich nichts.« Sie strich über ihre Stirn. »Mir ist nur etwas warm geworden, verstehst du?«
»Das sehe ich. Aber ich habe dich auch etwas gefragt.«
»Ich weiß.«
»Warum kriege ich keine Antwort?«
Helen beugte sich vor und zur Seite. Sie umklammerte ihren Sohn mit beiden Armen. »Nein!« flüsterte sie hart. »Du wirst nicht sterben, David. Nicht du. Nicht mein Sohn. Ich werde es nicht zulassen, verstehst du? Ich werde um dich kämpfen. Du wirst keine Beute des Todes, das verspreche ich dir.« Sie schloß für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf den warmen, aber dennoch unnatürlich steifen Körper ihres Sohnes. In ihm pulsierte das Leben wie ein Strom, und sie würde nicht zulassen, daß dieser Strom versiegte.
Als sie David wieder losließ, atmete er tief durch. »Du hast mich richtig stark gedrückt, Mum.«
»Ja, ich weiß.«
»Und was ist, wenn ich doch…?«
»Psssst!« Die Frau legte einen Zeigefinger auf die Lippen ihres Sohnes.
»Jetzt nicht mehr reden, Liebling, bitte nicht sprechen. Es kommt alles in Ordnung.«
»Ich weiß nicht…«
»Doch, David, doch, denn ich lasse dich nicht mehr allein. Ich schlafe ab heute in deinem Zimmer. Ist das okay?« Sie schaute ihren Sohn an, um eine Reaktion sofort erkennen zu können.
David lächelte. »Ehrlich, Mummy? Willst du das tun?«
»Ja.«
»Das ist toll.«
»Daddy hat die aufklappbare Liege schon hier oben in den Flur gestellt. Das geht alles in Ordnung…«
»Wo ist er denn?«
»Er besorgt noch etwas.«
»Er bleibt aber im Haus - oder?«
»Ja.«
»Gut, Mum.«
Helen Goldman stand auf. Sie schaute zu, wie sich ihr Sohn wieder zurücklegte und seinen Hinterkopf auf das Kissen drückte. Er lächelte dabei so abwesend und verloren, als sollte dieses Lächeln kein Ziel mehr finden.
»Es dauert nicht mehr lange, bis es dunkel wird«, sagte sie und gab David einen Kuß. »Ich komme nach dem Essen.«
»Ja. Auch Daddy?«
»Später wird er nach dir schauen. Er trifft sich mit einigen Männern am heutigen Abend. Sie haben noch etwas zu besprechen.«
»Sag ihm, daß ich ihn lieb habe.«
»Das werde ich auf jeden Fall, mein Kleiner.« Sie stand auf. »So jetzt muß ich gehen. Bis gleich. Bis gleich.« Sie küßte David auf die Stirn und schritt zur Tür, den Blick dabei schräg zur Seite gerichtet, damit sie den Jungen noch sehen konnte.
»Mummy, noch eine Frage.«
»Ja bitte.«
»Ist morgen wirklich Weihnachten?«
Helen Goldman blieb stehen und atmete scharf ein. Für einen Moment fühlte sie sich schwindlig, und sie merkte auch, wie der Boden unter den Füßen leicht schwankte. »Ja«, bestätigte sie dann. »Morgen ist der Heilige Abend. Er beginnt um Mitternacht.«
»Bis dahin bin ich aber nicht gesund - oder?«
»Nicht ganz, David.«
»Hast du schon die Geschenke?«
»Ich denke schon.«
»Was ist es denn?«
Helen legte einen Finger gegen ihre Lippen. »Das wird nicht verraten«, sagte sie dann. »Aber du darfst dich
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