1 Fatale Bilanz - Ein Hamburg-Krimi
dass er die Behauptung lächelnd abtat. Sie musterte ihn prüfend und schüttelte schließlich den Kopf. »Es sind tatsächlich nur die Augen. Shara sieht man ihre Herkunft deutlich an, dir überhaupt nicht. Aber viel wichtiger ist eigentlich, dass ich seit den Schüssen auf diesen Mistkerl wusste, dass du hier bist, und darauf gewartet habe, dass wir uns treffen.«
Wieso sprach sie, als ob Shara noch leben würde? Und woher nahm sie die Gewissheit, dass er auf Kranz geschossen hatte? Er kam nicht dazu, sie zu fragen. Sie klopfte auf die Tarotkarten, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
»Die haben mir das verraten. Sie sprachen eindeutig von deiner Ankunft. Als ich von den Schüssen auf Kranz gelesen habe, war mir der Zusammenhang sofort klar.«
»Na, hoffentlich verwendet die deutsche Polizei keine ähnlichen Karten und kommt auf dumme Ideen.«
»Noch eine Gemeinsamkeit mit deiner Schwester. Die gleiche Frechheit und das gleiche charmante Lächeln, das es einem unmöglich macht, euch böse zu sein. Aber jetzt erzähl mir bitte, wieso du lebst.«
So konnte man das natürlich auch formulieren. Es war eindeutig richtig gewesen, herzukommen, und er begann bereits, Em zu mögen. Hinter ihrer schillernden Fassade erkannte er Warmherzigkeit und ehrliches Interesse, so dass er sich für die Wahrheit entschloss – weitestgehend.
»Du weißt bestimmt, dass unsere Familie ursprünglich aus Afghanistan stammt. 1973 endete dort die Monarchie, und das Land wurde zu einer Republik, aber Ruhe ist dort bis heute nicht eingekehrt. Ich muss ungefähr zwei Jahre alt gewesen sein, als mein leiblicher Vater mich auf einen Markt mitnahm. Bei einer Explosion wurde er getötet und ich leicht verletzt.«
Ems Augen wurden feucht. »Shara und vor allem eure Mutter hatten angenommen, ihr hättet die Explosion beide nicht überlebt.«
»Ein amerikanischer Offizier hat gesehen, wie mein Vater sich schützend auf mich warf, und sich danach um mich gekümmert. Er hat versucht, meine Angehörigen ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Außer meinem Namen und einigen Worten konnte ich noch nicht viel sagen, und keiner kannte mich oder wusste, aus welchem Ort ich stammte. Statt mich im Waisenhaus abzugeben, nahm er mich mit in die Vereinigten Staaten. Er hat mich adoptiert und ich wuchs als sein Sohn auf. Da er lange Jahre in Deutschland stationiert war, habe ich fast meine gesamte Schulzeit hier verbracht. Nur ein paar hundert Kilometer von meiner Schwester entfernt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nichts über meine leibliche Familie.«
»Hattest du denn überhaupt keine Erinnerungen an deine Familie?«
»Nein, dafür war ich zu jung. Und ehrlich gesagt, hat es mich jahrelang nicht interessiert, woher ich eigentlich stamme. Vielleicht weil ich nie irgendetwas vermisst habe. Vor zwei Jahren war ich zum ersten Mal beruflich in Afghanistan. Da begann ich, mich für das Land und meine Herkunft zu interessieren, und habe einige Nachforschungen angestellt. Als ich auf Shara stieß, kam mir ihr Vorname irgendwie bekannt vor, das war aber mehr ein Gefühl. Meine Mutter meinte dann ebenfalls, eine erstaunliche Ähnlichkeit der Augenpartien zu erkennen. Der Rest war einfach. Ich fand heraus, dass Shara aus einem Dorf in der Nähe des Explosionsortes stammte, und hatte meinen Beweis. Weißt du mehr?«
»Shara hat nicht gern über ihre Heimat gesprochen. Irgendetwas muss für sie zu schmerzlich gewesen sein. Sie ist mit einer Tante nach Deutschland gekommen, aber die ist nach einigen Jahren, noch ziemlich jung, gestorben. Ich glaube, deshalb wollte Shara unbedingt Ärztin werden. Wir wohnten damals im gleichen Haus, und ich war bereits eine Art Ersatzmutter für sie geworden. Ich vermute, eure restliche Familie ist in den Wirren des Bürgerkrieges ums Leben gekommen, aber Genaues weiß ich nicht. Wie bist du auf diesen Mistkerl gestoßen?«
Mark trank seinen Kaffee aus, um Zeit zu gewinnen. Er brauchte dringend eine unverfängliche Erklärung, da ihm Jake einen Großteil der Informationen auf unkonventionelle Weise besorgt hatte.
»Das war relativ einfach. Kranz ist direkt oder indirekt für ihren Tod verantwortlich und hat ihre gemeinsame Tochter adoptiert. Aber leider habe ich keine Beweise, nur Indizien.«
Zu seiner Erleichterung verzichtete Em auf weitere Nachfragen. »Dann weißt du bestimmt auch, dass mein Adoptionsantrag abgelehnt worden ist.«
»Ja, gegen den leiblichen Vater, seinen gesellschaftlichen Background und
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