1 Frau, 4 Kinder, 0 Euro (fast): Wie ich es trotzdem geschafft habe
spannend werden.
Herr Herbke rief Sabina, die Frau Herbke wieder nach oben führte. Er war etwas verlegen und schien sich für seine Mutter zu schämen.
»Sie ist nicht immer so garstig …«, beeilte er sich, mir mitzuteilen, »… aber Sie müssen eines wissen: Meine Mutter ist, ja, wie soll ich sagen, sie ist dem Alkohol zugeneigt. Auf keinen Fall darf sie etwas trinken. Ich muss mich darauf verlassen können. Beschäftigen Sie sie irgendwie. Lenken Sie sie ab. Und lassen Sie sich nicht von ihr weichklopfen. Das kann sie nämlich ganz gut.«
An meinem ersten Arbeitstag als Gesellschafterin hatte ich vor allem damit zu tun, Frau Herbke zu erklären, dass ich ihr keinen Sherry organisieren würde. Nein, auch keine anderen geistreichen Getränke. Frau Herbke war unglaublich hartnäckig, beschimpfte mich entgegen meinen Befürchtungen jedoch nicht. Die Stunden mit ihr waren eingesponnen in einen minutiös geregelten Tagesablauf.
Außer Sabina gab es noch eine Frau, die sauber machte, einen Gärtner und eine Frau, die zum Bügeln und Mangeln kam. Punkt 12 Uhr gab es ein leichtes Mittagsmahl in der Biedermeier-Sitzgruppe, das uns Sabina auf Tellern der Königlichen-Porzellan-Manufaktur servierte. Frau Herbke hatte wenig Appetit, und als sie merkte, dass ich auch am dritten Tag nicht bereit war, ihr ein Gläschen zu organisieren, versank sie in eine Lethargie, die mir unheimlich war. Ich hatte sie zuvor immer wieder nach ihrer Familie, ihren Kindern, Enkeln (gab es welche?), nach ihren Interessen gefragt, aber sie war immer kurz angebunden und ausweichend gewesen. Jetzt versuchte ich etwas anderes, um die Dame aus ihrer traurigen Versenkung zu holen.
»Frau Herbke, wo sind denn Ihre Fotoalben? Sie haben doch sicher welche. Zeigen Sie mir doch bitte Bilder von früher, ich bin wirklich daran interessiert.«
Frau Herbke wies kraftlos auf die Kommode im Flur und senkte wieder ihren Kopf, um ins Leere zu starren. Aus den Fächern des unförmigen Möbelstücks schlug mir ein Muff von tausend Jahren entgegen. Ich zog mehrere Alben hervor, die säuberlich gestapelt in dem Kommodenungeheuer verstaut waren. Frau Herbke blickte kaum auf, als ich mich neben sie auf die Sofalandschaft setzte. Ich nahm eines der Alben und fing an zu blättern. Das erste Bild zeigte eine Szene an einem festlich gedeckten Tisch in einem großen Saal. Dort saß im Vordergrund im Profil eine atemberaubend schöne Blondine, behängt mit wunderbarem Schmuck, das Cocktailkleid tief ausgeschnitten. Daneben saß ein Herr mittleren Alters, Zigarre rauchend, er unterhielt sich mit einem anderen Mann neben ihm. Frau Herbke hob den Kopf und starrte das Foto an. Ich sagte nichts, als sie etwas näher an mich heranrückte und das Bild in sich aufzusaugen schien. Sie fing an zu lächeln und nickte zufrieden.
»All die schönen Feste, die tollen Kleider. Und Hermann hat mir den schönen Schmuck geschenkt. Da waren wir noch nicht lange verheiratet. Da war er noch galant zu mir.«
»Wie alt sind Sie auf dem Bild?«, fragte ich sie.
»Na, vielleicht so Ende zwanzig? Da war Rüdiger noch nicht auf der Welt. Sieht man doch. Da, meine Figur. Eins a. Kinder verderben einem doch die ganze schlanke Linie.« Ich hoffte, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt noch etwas Positives zum Thema Kinderkriegen äußern würde, aber das passierte kein einziges Mal, während ich ihr Gesellschaft leistete. Kinder als Beglückung, als Bereicherung, kamen in ihrer Lebenserfahrung nicht vor.
Wir blätterten weiter. Frau Herbke wurde quicklebendig und erzählte zu jedem Bild etwas. In der Mitte des Albums brach sie ab und verlangte von mir, sämtliche Alben chronologisch zu sortieren.
»Jetzt fangen wir mal richtig von vorne an«, freute sie sich. »Aber schön der Reihe nach. Ich werd ja sonst ganz durcheinander im Kopf.«
In der nächsten Woche waren wir stundenlang mit den Alben beschäftigt. Mit jeder Stunde des Betrachtens fügten sich viele Mosaiksteine zu dem fein differenzierten Bild eines unglücklichen Frauenlebens zusammen.
Welches Bild entstünde im Kopf eines unabhängigen Betrachters, wenn dieser später durch meine Fotoalben blätterte? Als Mädchen und junge Frau hatte ich diesen verschmitzten, offenen, fast naiven Blick, über den sich damals so manch ein WG-Genosse lustig gemacht hatte. Als frischgebackene Mutter war dieses Fröhlich-Naive auch noch gut zu erkennen, aber dann kam irgendwann dieses Ernste hinzu, das in einen Ausdruck der Erschöpfung
Weitere Kostenlose Bücher