1 - Schatten im Wasser
Schimmelrasen vom Leder, der durch die herrschende Feuchtigkeit üppig spross. Einem plötzlichen Verlangen gehorchend, kniete sie nieder, öffnete den Verschluss und hob ein in Wachstuch gehülltes Paket heraus.
Behutsam schlug sie das Tuch zurück.
Perlmuttern schimmernde Seide und zarte Klöppelspitzen quollen hervor. Das Hochzeitskleid ihrer Mutter. Sie hatte es in einer Truhe gefunden, kurz nachdem ihre Mutter nach Wochen von bösem Husten und blutigem Auswurf an Lungenfieber gestorben war. Seitdem lag das Kleid stets zuunterst in ihrer Reisetasche und begleitete sie überallhin. Sie hob es heraus. Wie ein kühler Hauch fiel es auf ihre bloßen Beine.
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Mit einem Schluchzer vergrub sie ihr Gesicht in dem zarten Stoff, atmete den schwachen Rosenduft ihrer Mutter, krümmte sich schier vor Verlangen nach ihrer Wärme und Zärtlichkeit, der Geborgenheit ihrer Umarmung. Ihr Vater war kein gefühlvoller Mensch. Er mied Körpernähe, glaubte, dass es genügte, den Geist eines Kindes zu bilden. Ihre seltenen, zaghaften Versuche, sich bei ihm anzuschmiegen, wies er gedankenlos ab, tätschelte ihr allenfalls abwesend den Kopf. Ganz fest drückte sie das Kleid an sich, meinte ein sanftes Streicheln zu spüren. Sie gab sich ganz diesem Gefühl hin und merkte nicht, dass sie es war, die sich selbst liebkoste. Ihre Atemzüge wurden tief und regelmäßig, und allmählich legte sich ihr innerliches Zittern. Als sie wieder ganz ruhig war, fast schläfrig, löste sie sich, faltete das Kleid liebevoll zusammen, rollte die langen Satinbänder ein und legte es zurück. Es war ihr Kostbarstes, das Einzige, was ihr von ihrer Mutter geblieben war, ihre innere Zuflucht, die Erinnerung an sonnendurchflutete Tage voller Jauchzen und Zärtlichkeit, an Märchen, die ihre Träume hell und leicht machten.
Sie strich noch einmal über die knisternde Seide, knipste den Verschluss der Reisetasche zu und erhob sich vom Boden. Der Smutje hatte ihr Frühstück, aus einem Becher dünnen Tees, Brot mit Marmelade, die Wilma mit an Bord gebracht hatte, und einem harten Ei bestehend, auf den kleinen Tisch neben ihrem Bett gestellt. Sie brach das Brot auf, fand, wie schon am Tag zuvor, mitgebackene, im Tod verkrümmte gelbe Mehlwürmer.
Gleichmütig pulte sie die Tiere heraus und schnippte sie aus dem Fenster, während sie sich vornahm, den Smutje, einen pickeligen, grünschnäbligen Jungen vom platten Land um Bremen, dazu anzuhalten, das Mehl sorgfaltiger zu sieben. Auch wegen des Tees musste sie mit ihm reden. Ihr Vater hatte ihn selbst mitgebracht, und der Verdacht beschlich sie schon seit längerem, dass der Junge sich daran bediente.
Der Küchenjunge war der Gehilfe ihres eigenen Kochs gewesen, der ihren Vater stets auf Reisen begleitete. Der jedoch war von einem Landgang in jämmerlicher Verfassung zurückgekehrt. Stundenlang hing er am Tampen an der Außenbordwand
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und entleerte sich mit wirklich sehr unangenehmen Geräuschen. Innerhalb weniger Tage wurde er quittegelb und skelettdürr und so schwach, dass er auf einem Eimer sitzen musste, weil er sich am Tampen nicht mehr halten konnte. Vier Tage nach seiner Rückkehr war er tot. Er wurde in Persenning eingenäht und über Bord geworfen. Der Kapitän sprach ein Gebet, alle sangen einen Psalm. Seitdem kochte der Küchenjunge.
Nachdem sie gegessen hatte, ließ sie ihren Rock wieder auf züchtige Länge fallen, nahm das ledergebundene Tagebuch, das sie von Wilma zum siebzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, klemmte sich den Zeichenblock unter den Arm und ging an Deck. Dort ließ sie sich von einem widerwil igen Matrosen einen Stuhl in die Spitze des Bugs stellen. Sie setzte sich, schlug den Zeichenblock auf und schaute sich um.
Flussaufwärts schlief ein Krokodil auf der Sandbank. Es war groß, aber von völlig normalen Krokodilausmaßen, wie sie beruhigt feststellte, nicht einmal so groß wie ein Eingeboreneneinbaum. Mit raschen Strichen begann sie, das Reptil zu skizzieren, und gab sich besondere Mühe, jede Hornschuppe einzeln auszuarbeiten.
Trotz der frühen Morgenstunde drückte feuchte Hitze auf das Schiff, kein Lüftchen rührte sich. Mücken umsirrten sie in dichten Wolken.
Geistesabwesend zerquetschte sie eine auf ihrem Arm. Die Luft war erfüllt von Lachen, Hühnergackern und Schweinegrunzen, Vogelschreie hallten durch den Wald, der Fluss plätscherte leise, und im Hintergrund fiedelten die Zikaden. Eine friedliche Ruhe lag über allem. Wie eine vielbeinige Raupe
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