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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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nicht gerade prügelt.
    Seine Fähigkeiten reichten, um meine nachlässige Maskierung zu durchdringen. Dass wir uns trafen, verwunderte mich nicht einmal. Die Welt ist voller Zufälle, und hinzu kommt noch die Vorbestimmung.
    »Hallo, Jegor«, sagte ich, ohne darüber nachzudenken. Ich weitete den Zauber aus, um den Jungen mit in den Kreis zu nehmen, wo er nicht beachtet wurde.
    Er zuckte zusammen, sah sich um. Starrte mich an. Olga hatte er ja noch nie in Menschengestalt gesehen. Nur als weiße Eule.
    »Wer sind Sie und woher kennen Sie mich?«
    O ja, er war gereift. Nicht äußerlich, sondern innerlich. Mir war nicht klar, wie er es fertig gebracht hatte, sich immer noch nicht endgültig entschieden, sich weder auf die Seite des Lichts noch die des Dunkels gestellt zu haben. Schließlich war er schon im Zwielicht gewesen, zudem unter Umständen, in denen er wer weiß was hätte werden können. Doch seine Aura schimmerte wie gehabt rein und neutral.
    Das eigene Schicksal. Wie schön wäre es, ein eigenes Schicksal zu haben.
    »Ich bin’s, Anton Gorodezki von der Nachtwache«, sagte ich einfach. »Erinnerst du dich noch an mich?«
    Was für eine Frage.
    »Aber …«
    »Lass dich dadurch nicht täuschen. Das ist eine Maskierung. Wir können unsere Körper wechseln.«
    Ich überlegte kurz, ob ich nicht mein Wissen aus dem Illusionskurs hervorkramen und kurz in mein altes Äußeres zurückkehren sollte. Doch das war gar nicht nötig – der Junge glaubte mir. Vielleicht, weil er sich an die Transformationen des Chefs erinnerte.
    »Was wollen Sie von mir?«
    »Nichts. Ich warte hier auf eine Kollegin, der dieser Körper gehört. Wir beide haben uns nur zufällig getroffen.«
    »Ich hasse eure Wachen!«, schrie Jegor.
    »Das kannst du halten, wie du willst. Ich habe dich wirklich nicht verfolgt. Wenn du willst, geh.«
    Das zu glauben fiel ihm bedeutend schwerer, als den Körpertausch hinzunehmen. Misstrauisch schaute der Junge sich um und zog die Augenbrauen zusammen.
    Natürlich brachte er es nicht ohne weiteres fertig zu gehen. Er hatte ein Geheimnis gelüftet, Kräfte gespürt, die jenseits der Menschenwelt lagen. Und auf diese Kräfte verzichtet, wenn auch nur vorläufig.
    Doch ich ahnte, wie gern er das alles gelernt hätte – wenigstens ein paar Kleinigkeiten, Taschenspielertricks mit Pyrokinese und Telekinese, Suggestion, Heilen, Flüchen – keine Ahnung, was genau, aber wahrscheinlich wollte er genau das. Es nicht nur kennen, sondern beherrschen.
    »Haben Sie mich wirklich nicht verfolgt?«, fragte er schließlich.
    »Wirklich nicht. Wir können nicht lügen – nicht geradezu.«
    »Und woher soll ich wissen, ob das nicht auch eine Lüge ist?«, brummte der Junge mit abgewandtem Blick. Was logisch war.
    »Nirgendwoher«, räumte ich ein. »Wenn du willst, glaub es.«
    »Das würde ich gern«, sagte der Junge, den Blick immer noch zu Boden gesenkt. »Aber ich erinnere mich daran, was geschehen ist, da auf dem Dach. Ich träume davon.«
    »Du brauchst vor dieser Vampirin keine Angst mehr zu haben«, beruhigte ich ihn. »Sie ist ausgelöscht worden. Auf ein Urteil des Gerichts hin.«
    »Ich weiß.«
    »Woher?«, wunderte ich mich.
    »Ihr Vorgesetzter hat mich angerufen. Der, der auch den Körper getauscht hatte.«
    »Das wusste ich nicht.«
    »Er hat einmal angerufen, als ich allein zu Hause war. Er hat gesagt, dass die Vampirin ihre Strafe bekommen hat. Und dann hat er noch gesagt, dass ich aus der Liste der Menschen gestrichen worden bin, weil ich ein potenzieller Anderer bin, auch wenn noch nicht klar ist, was für einer. Und das Los würde nie wieder auf mich fallen, ich brauchte also keine Angst mehr zu haben.«
    »Natürlich nicht«, bestätigte ich.
    »Ich habe ihn gefragt, ob meine Eltern weiter auf der Liste stehen.«
    Darauf wusste ich nichts zu sagen. Mir war klar, wie die Antwort des Chefs gelautet hatte.
    »Gut, ich geh jetzt.« Jegor trat einen Schritt zur Seite. »Ihre Zigarette ist ausgegangen.«
    Ich schmiss die Kippe weg. »Woher kommst du jetzt?«, fragte ich. »Es ist schon spät.«
    »Vom Training, ich schwimme. Aber sagen Sie, sind Sie das wirklich?«
    »Erinnerst du dich noch an den Trick mit der zerbrochenen Tasse?«
    Jegor rang sich ein Lächeln ab. Die billigsten Tricks beeindrucken die Menschen immer am meisten.
    »Ja. Aber …« Er verstummte und starrte an mir vorbei.
    Ich drehte mich um.
    Es ist merkwürdig, sich von außen zu sehen. Ein Typ mit meinem Gesicht, meinem Gang, in meinen

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