1 - Wächter der Nacht
allein auf weiter Flur gegen das Dunkel zu kämpfen.«
»Ja.«
»Du widersprichst mir ja heute gar nicht.« In meiner Stimme schwang keine Boshaftigkeit mit. »Olga, ist das, was ihr vorhabt, nicht gemein?«
»Nein.« In ihrer Stimme klang kein Zweifel. Es stand also viel auf dem Spiel.
»Wie lange muss ich durchhalten, Lichte?«
Sie zuckte zusammen.
Vor langer, vor sehr langer Zeit war dies einmal die übliche Form der Anrede bei der Wache gewesen. Lichter, Lichte. Warum nur hatten diese Worte ihre frühere Bedeutung verloren, warum wirkten sie heute so fehl am Platze, als redeten sich dreckige Penner vor einer Bierbude mit »Gentlemen« an?
»Wenigstens bis morgen früh.«
»Die Nacht – das ist nicht mehr unsere Zeit. Heute sind alle Dunklen auf den Straßen Moskaus. Und im Recht.«
»Nur so lange, bis wir den Wilden gefunden haben. Halte durch.«
»Olga.« Ich trat an sie heran, berührte mit der Hand ihre Wangen und vergaß einen Moment lang völlig den ungeheuren Altersunterschied – was sind schon tausend Jahre im Vergleich zu einer endlosen Nacht –, vergaß das Ungleichgewicht unserer Kräfte, den Unterschied unserer Ränge. »Olga, glaubst du denn, dass ich morgen noch lebe?«
Die Zauberin schwieg.
Ich nickte. Es gab nichts mehr zu sagen.
Also ja, das hat doch was.
Sich im Morgengraun verlieren,
Klopfen an die gläsernen
Immerzu verschlossnen Türen.
Ich drückte die Taste, um auf Zufallswahl umzuschalten. Nicht, weil das Lied nicht zu meiner Stimmung passte. Im Gegenteil.
Ich liebe die Metro bei Nacht. Warum, weiß ich selbst nicht. Es gibt nichts zu sehen außer der ekelhaften Reklame und den erschöpften, gleichförmigen Auren der Menschen. Es bleibt nur das Heulen des Motors, die Luft, die durch die nicht ganz geschlossenen Fenster hereinschwallt, das Gerumpel über die Schienen. Das stumpfsinnige Warten auf deine Station.
Trotzdem liebe ich sie.
Wir sind so leicht bei unserer Liebe zu fassen!
Ich erschauerte, erhob mich und ging zur Tür. Eigentlich hatte ich bis zum Ende der Linie fahren wollen.
»Rishskaja, nächste Station Alexejewskaja.«
Alle schweigen von demselben
Angestrengt und überall,
Und der Klub für Pest und Aussatz
Hat Saisoneröffnungsball.
Das passt.
Schon als ich die Rolltreppe betrat, spürte ich von vorn einen leichten Hauch von Kraft. Ich schickte meinen Blick die mir entgegenkommende Rolltreppe hoch – und machte fast sofort den Dunklen aus.
Immerhin kein hoher Wächter des Tages, die haben andere Allüren. Ein kleiner Magier, vierter oder fünfter Grad, vermutlich eher fünfter: Er musste sich gewaltig anstrengen, um seine Umgebung zu scannen. Noch ganz jung, Anfang zwanzig, mit langen blonden Haaren, einer zerknautschten offenen Jacke, einem freundlichen, wenn auch angespannten Gesicht.
Wie bist du bloß ins Dunkel geraten? Was ist passiert, bevor du zum ersten Mal ins Zwielicht eingetreten bist? Hast du dich mit deiner Freundin verkracht? Mit deinen Eltern gestritten? Die Prüfungen an der Uni vergeigt oder in der Schule eine Fünf bekommen? Waren sie dir im Oberleitungsbus auf dem Fuß herumgetrampelt?
Am schrecklichsten ist allerdings, dass du dich nach außen nicht verändert hast. Oder höchstens zum Vorteil. Deine Freunde werden voller Verwunderung bemerkt haben, was sie jetzt mit dir für Spaß haben, dass ihnen alles gelingt, was sie zusammen mit dir machen. Deine Freundin wird in dir eine Unmenge bisher verborgener Qualitäten entdeckt haben. Deine Eltern können sich nicht genug über ihren Sohn freuen, der so reif und klug geworden ist. Die Dozenten sind begeistert von dem talentierten Studenten.
Und niemand weiß, welchen Preis du von deiner Umwelt eintreibst. Womit sie deine Güte, deine Späße und dein Mitleid bezahlen.
Ich kniff die Augen etwas zusammen und stützte mich mit dem Ellbogen aufs Geländer. Ein müder, leicht betrunkener Mann, der auf nichts achtete und Musik hörte. Der Blick des Dunklen glitt über mich hinweg, wanderte weiter nach unten, erzitterte, hielt inne.
Zeit mich vorzubereiten, mein Äußeres zu ändern, meine Aura zu tarnen blieb mir nicht. Trotz allem hatte ich nicht erwartet, dass die Dunklen die Metro bereits absuchten.
Eine kalte Berührung, durchdringend wie eine Windböe. Der Junge verglich mich mit dem Bild, das vermutlich unter allen Dunklen in Moskau verteilt worden war. Ungeschickt machte er das, vergaß dabei seine Abschirmung und bemerkte nicht, wie mein Bewusstsein einen
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