1 - Wächter der Nacht
Jeans und meinem Sweatshirt kam auf uns zu, am Gürtel den MD-Player, in der Hand eine kleine Tasche. Ein angedeutetes, kaum zu erkennendes Lächeln, das ebenfalls mir gehörte. Selbst die Augen, dieser falsche Spiegel, waren meine.
»Hallo Anton«, begrüßte mich Olga. »Guten Abend, Jegor.«
Dass der Junge hier war, wunderte sie nicht im Geringsten. Sie wirkte überhaupt sehr ruhig.
»Guten Abend.« Jegors Blick wanderte zwischen ihr und mir hin und her. »Ist Anton jetzt in Ihrem Körper?«
»Ganz genau.«
»Sie sind nett. Woher kennen Sie mich denn?«
»Ich habe dich gesehen, als ich in einem weniger netten Körper steckte. Aber jetzt musst du uns entschuldigen. Anton steckt in großen Schwierigkeiten, um die wir uns kümmern müssen.«
»Soll ich gehen?« Jegor hatte völlig vergessen, dass er das gerade eben noch aus freien Stücken tun wollte.
»Ja. Sei uns nicht böse, aber hier wird es gleich heiß werden, sehr heiß.«
Der Kleine sah mich an.
»Die Tagwache ist hinter mir her«, erklärte ich ihm. »Alle Dunklen Moskaus.«
»Warum?«
»Das ist eine lange Geschichte. Fahr jetzt lieber nach Hause.«
Das klang grob. Jegor nickte mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er schielte zum anderen Gleis hinüber – gerade kam ein Zug.
»Aber Ihre Leute verteidigen Sie doch?« Trotz allem bereitete es ihm Schwierigkeiten zu begreifen, wer von uns in welchem Körper steckte. »Die von Ihrer Wache?«
»Sie versuchen es«, antwortete Olga sanft. »Aber jetzt geh bitte. Das bisschen Zeit, das wir haben, läuft uns davon.«
»Auf Wiedersehen.« Jegor drehte sich um und rannte zum Zug. Mit dem dritten Schritt verließ er den Kreis, der ihn der Aufmerksamkeit seiner Umwelt entzog. Beinah hätte man ihn umgerannt.
»Wenn der Junge geblieben wäre, hätte ich geglaubt, dass er sich für unsere Seite entscheidet«, sagte Olga, während sie ihm nachblickte. »Zu gern würde ich wissen, welche Wahrscheinlichkeit es gab, dass ihr euch in der Metro begegnet.«
»Das war ein Zufall.«
»Es gibt keine Zufälle. Ach, Anton, vor langer Zeit habe ich die Realitätslinien so problemlos gelesen wie ein offenes Buch.«
»Ich hätte nichts gegen eine gute Prophezeiung einzuwenden.«
»Eine echte Prophezeiung kriegst du nicht auf Bestellung. Gut, kommen wir zur Sache. Du willst in deinen Körper zurück?«
»Ja. Gleich hier.«
»Wie du meinst.« Olga streckte die Arme – meine Arme – aus und packte mich bei der Schulter. Was ein idiotisches, ambivalentes Gefühl in mir hervorrief. Offenbar erging es ihr genauso. »Was musstest du auch so schnell in die Bredouille geraten, Anton?«, amüsierte sie sich. »Ich hatte für heute Abend so extravagante Dinge geplant.«
»Sollte ich dem Wilden vielleicht dankbar sein, dass er deine Pläne durchkreuzt hat?«
Olga konzentrierte sich, ihr Lächeln verschwand. »Gut. Also los.«
Wir stellten uns Rücken an Rücken und streckten die Arme seitlich aus, um ein Kreuz zu bilden. Ich berührte die Finger Olgas, die meine Finger waren.
»Gib mir meins«, sagte Olga.
»Gib mir meins«, wiederholte ich.
»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück.«
Ich erschauerte, als mir klar wurde, dass sie den richtigen Namen des Chefs genannt hatte! Den aus den tibetanischen Sagen!
»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück!«, wiederholte Olga in scharfem Ton.
»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück!«
Olga wechselte in eine alte Sprache über, einen weichen Singsang, den sie vortrug, als sei er ihre Muttersprache. Doch voller Schmerzen spürte ich, wie viel Mühe sie diese magische Handlung kostete, die noch nicht einmal sehr bedeutend war, sondern nur die zweite Kraftstufe verlangte.
Beim Gestaltwechsel schnellt man hoch wie eine Sprungfeder. Unser jeweiliges Bewusstsein hielt sich nur dank der Energie, die Boris Ignatjewitsch Geser uns gegeben hatte, in dem fremden Körper. Wir brauchten nur auf seine Kraft zu verzichten, und schon nahmen wir wieder unsere eigene Gestalt an. Wenn einer von uns beiden ein Magier ersten Grades gewesen wäre, hätten wir noch nicht einmal Körperkontakt herstellen müssen, dann hätte sich der Tausch auch auf Distanz durchführen lassen.
Olgas Stimme schwang sich hoch: Sie sprach die Schlussformel des Verzichts.
Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann krümmte ich mich in einem Krampf, wand mich, vor meinen Augen verschwamm alles, wurde grau, als sei ich ins Zwielicht eingetaucht. Kurz sah ich die Metrostation – die gesamte, die mit Staub
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