1 - Wächter der Nacht
scharf die Luft aus und sah Semjon an, als erhoffe sie sich von ihm Unterstützung.
»Der Einsatz magischer Fähigkeiten für persönliche Ziele kann unvorhersehbare Folgen haben«, dozierte Semjon in amtlichem Ton. »Ich kann mich noch erinnern, wie …«
»Was denn für magische Fähigkeiten?«, wunderte sich Julja aufrichtig. »Ich habe ihr gesagt, dass ich mit Freunden einen draufmachen möchte, und sie gebeten mitzuspielen. Erst hat Sweta zwar gestöhnt, dann aber natürlich zugestimmt.«
Hinterm Steuer kicherte Ilja.
»Das musste ich sagen«, empörte sich Julja, die nicht verstand, was daran so komisch sein sollte. »So machen die Menschenkinder das schließlich. Warum lacht ihr denn bloß alle so? Na?« Bei jedem von uns Wächtern nimmt die Arbeit viel Platz im Leben ein. Nicht, weil wir begeisterte Arbeitstiere wären – welcher klar denkende Mensch zieht schon die Arbeit der Freizeit vor? Auch nicht, weil unsere Arbeit so außerordentlich interessant ist, größtenteils langweilen wir uns auf Streife oder sitzen uns im Büro den Hosenboden durch. Nein, es fehlt uns einfach an Leuten. Die Tagwache schließt die Lücken weitaus schneller, jeder Dunkle drängt sich nach der Möglichkeit, Macht auszuüben. Bei uns dagegen sieht die Situation ganz anders aus.
Trotzdem pflegt jeder von uns neben der Arbeit sein eigenes kleines Leben, das wir mit niemandem teilen: nicht mit dem Licht, nicht mit dem Dunkel. Das gehört nur uns. Dieses kleine bisschen Leben, das wir zwar nicht verstecken, aber auch nicht zur Schau stellen und das wir aus unserem früheren Menschendasein mitgebracht haben.
Der eine geht auf Reisen, sobald sich ihm nur die kleinste Gelegenheit dazu bietet. Ilja zum Beispiel bevorzugt normale Touren, während Semjon trampt. Er hat schon mal die ganze Strecke von Moskau nach Wladiwostok ohne eine Kopeke in Rekordzeit hinter sich gebracht, ließ sich danach aber dennoch nicht bei der Liga der Autostopper registrieren, weil er unterwegs zweimal auf seine magischen Fähigkeiten zurückgegriffen hatte.
Ignat – und nicht nur er allein – versteht unter Erholung nichts anderes als sexuelle Abenteuer. Diese Phase machen fast alle durch, denn das Leben bietet einem Anderen weit mehr als den Menschen. Dass die Menschen sich, wenn auch unbewusst, stark zu den Anderen hingezogen fühlen – selbst wenn diese darauf keinen Wert legen –, ist eine bekannte Tatsache.
Viele von uns sammeln etwas. Angefangen von harmlosen Sachen wie Taschenmessern, Schlüsselanhängern, Briefmarken und Feuerzeugen bis hin zu Wettern, Gerüchen, Auren und Zaubersprüchen ist bei uns alles vertreten. Ich selbst habe mal Modellautos gesammelt, ein Heidengeld für seltene Exemplare ausgegeben, die nur für ein paar Tausend Idioten überhaupt einen Wert darstellten. Jetzt fristet die ganze Kollektion ihr Dasein in zwei Pappkartons. Ich sollte mal mit ihnen zu einem Spielplatz gehen und sie dort im Sandkasten ausschütten, zur Freude der Kleinen.
Die Zahl von Jägern und Anglern ist ebenfalls hoch. Igor und Garik betreiben extremes Fallschirmspringen. Galja, ein sehr liebes Mädchen und unsere überflüssige Programmiererin, züchtet Bonsais. Kurzum, wir greifen auf das ganze reiche Angebot an Vergnügungen zurück, das die Menschheit entwickelt hat.
Nicht den blassesten Schimmer hatte ich jedoch, welchem Hobby Tigerjunges, zu der wir jetzt fuhren, nachging. Das interessierte mich fast genauso stark wie die Möglichkeit, aus dem Backofen der Stadt herauszukommen. Normalerweise kriegst du sofort mit, welchen kleinen Tick jemand hat, wenn du einmal bei ihm zu Hause gewesen bist.
»Dauert es noch lange?«, fragte Julja mit nörgelndem Unterton. Wir hatten die Hauptstraße bereits verlassen und zuckelten seit fünf Kilometern einen Feldweg entlang, vorbei an einer kleinen Datschensiedlung und einem Flüsschen.
»Wir sind fast da«, antwortete ich, nachdem ich einen Blick auf die Wegbeschreibung geworfen hatte, die uns Tigerjunges gegeben hatte.
»Genauer gesagt, wir sind da«, meinte Ilja, riss das Auto herum und fuhr direkt auf ein paar Bäume zu. Julja schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Swetlana reagierte gelassener, streckte aber trotzdem die Hände nach vorn, weil sie einen Aufprall erwartete.
Das Auto donnerte durch dichtes Gesträuch und undurchdringlichen Windbruch direkt auf die als dichte Mauer stehenden Bäume zu. Zu einem Zusammenstoß kam es natürlich nicht. Wir sprangen durch das Trugbild und fanden
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