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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Poljot und andere grauenvolle Tabaksorten.
    »Schließt die Fenster«, bat Semjon.
    Kurz darauf fiel die Temperatur im Auto deutlich. Ein leichter Geruch nach salzigem Meer hing in der Luft. Ich merkte sogar, dass es ein Meer bei Nacht war und in nicht allzu weiter Ferne lag, ein Ufer irgendwo auf der Krim. Jod, Algen, ein Hauch von Beifuß. Das Schwarze Meer. Koktebel.
    »Koktebel?«, fragte ich.
    »Jalta«, erwiderte Semjon lakonisch. »10. September 1972, etwa drei Uhr nachts. Nach einem leichten Sturm.«
    Ilja schnalzte neidisch mit der Zunge.
    »Alle Achtung!«, sagte er. »Und dieses Bouquet hast du bis heute nicht verbraucht?«
    Julja blickte Semjon mit schuldbewusster Miene an. Die Klimakonservierung bereitete allen Magiern Schwierigkeiten, und das jetzt von Semjon offerierte Bouquet an Empfindungen hätte jedes gesellige Beisammensein bereichert.
    »Vielen Dank, Semjon Pawlowitsch.« Aus irgendeinem Grund schüchterte er das Mädchen genauso ein wie der Chef, weshalb sie ihn immer mit Vor- und Vatersnamen ansprach.
    »Nicht der Rede wert«, erwiderte Semjon gelassen. »Ich habe noch einen Taigaregen von 1913 in meiner Sammlung oder einen Taifun von ‘40, einen Frühlingsmorgen in Jurmala von ‘56 und vermutlich auch noch einen Winterabend in Gagry.«
    Ilja lachte. »Einen Winterabend in Gagry – vergiss es. Aber der Taigaregen …«
    »Den tausch ich nicht«, erteilte Semjon ihm sofort einen Dämpfer. »Ich kenne deine Sammlung, du hast nichts, was sich mit ihm messen könnte.«
    »Aber wenn ich dir dafür zwei, nein, drei …«
    »Ich schenk ihn dir«, schlug Semjon vor.
    »Kommt gar nicht in Frage«, gab sich Ilja gekränkt und zerrte am Lenkrad. »Was sollte ich dir denn dafür zurückschenken?«
    »Dann entkonserviere ich ihn.«
    »Na, vielen Dank auch.«
    Natürlich, er schmollte. Meiner Ansicht nach ließen sich die Fähigkeiten der beiden gut vergleichen, vielleicht war Ilja sogar ein wenig stärker. Dafür besaß Semjon ein Gespür für den Moment, der es wert war, magisch bewahrt zu werden. Außerdem vergeudete er seine Sammlung nicht in banalen Situationen.
    Gewiss, unter bestimmten Gesichtspunkten wirkte die gerade von ihm vollbrachte Tat verschwenderisch: die letzte halbe Stunde Fahrt in der Hitze mit einem derart wertvollen Gebinde an Gefühlen erträglicher zu machen.
    »Ja, ein Abend, wo man Schaschlik grillt, diesen Nektar müsste man atmen«, sagte Ilja. Mitunter kann er seltsam dickfällig sein. Julja spannte ihre Kräfte an.
    »Ich erinner mich noch, wie ich einmal im Orient war«, sagte Semjon plötzlich. »Unser Hubschrauber … Kurz gesagt, wir gingen zu Fuß. Die technischen Kommunikationsmittel hatten den Geist aufgegeben, magische anzuwenden, wäre in etwa so gewesen, als laufe jemand in Harlem mit dem Transparent Schlagt die Nigger! herum. Wir also zu Fuß durch die Wüste von Hadramaut. Bis zu unserm Mann vor Ort war es nicht mehr weit, hundert Kilometer, vielleicht hundertzwanzig. Aber wir waren am Ende unserer Kräfte. Hatten kein Wasser mehr. Plötzlich sagt Aljoschka, ein guter Junge, der jetzt im Baltikum arbeitet: Ich kann einfach nicht mehr, Semjon Pawlowitsch, ich habe eine Frau und zwei Kinder zu Hause, ich will zurück. Dann legt er sich in den Sand und entkonserviert seine geheimen Vorräte. Er hatte einen Platzregen. Etwa zwanzig Minuten kübelt es. Wir haben uns satt getrunken, die Flaschen gefüllt, uns wieder aufgerappelt. Am liebsten hätte ich ihm die Fresse poliert, dass er früher nichts davon gesagt hatte, aber er tat mir Leid.«
    Nach dieser langen Rede breitete sich im Wagen minutenlanges Schweigen aus. Selten gab Semjon die Ereignisse seines stürmischen Lebens so beredt wider.
    Als Erster sagte Ilja etwas. »Und warum hast du deinen Taigaregen nicht spendiert?«
    »Vergleich die beiden doch mal«, schnaubte Semjon. »Mein Regen aus der Kollektion stammt von 1913, der Frühlingsschauer kommt aus Moskau, hat nichts Besonderes an sich und stinkt obendrein nach Benzin. Und?«
    »Alles klar.«
    »Eben. Alles hat seine Zeit und seinen Ort. Der A-bend, an den ich mich erinnert habe, war angenehm. Aber nicht herausragend. Passt zu deinem Klapperkasten.«
    Swetlana lachte leise. Die leichte Anspannung, die im Auto gehangen hatte, verflüchtigte sich.
    Die ganze Woche war die Nachtwache wie elektrisiert gewesen. Irgendwie passierte in Moskau nichts Besonderes, nur ganz normale Routinearbeit. Über der Stadt lastete eine Hitze, wie es sie noch nie im Juni gegeben

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