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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Gehtnichtmehr.
    »Hast du schon alle gehört?«, fragte ich. »Und gebrannt?«
    »Hm … Dann geh ich mal wieder …«
    »Warte!« Ich packte ihn bei der Schulter und manövrierte ihn ins Zimmer. »Was ist los?«
    Er schwieg.
    »Du hast es schon gehört?«, vermutete ich.
    »Wir sind nur sehr wenige, Anton.« Kostja sah mir in die Augen. »Wenn einer von uns stirbt, spüren wir das sofort.«
    »Verstehe. Zieh die Schuhe aus und lass uns in die Küche sehen. Reden wir in Ruhe über alles.«
    Kostja widersprach nicht. Fieberhaft überlegte ich, was ich machen sollte. Vor fünf Jahren, als ich ein Anderer geworden war und die Welt mir ihre Zwielicht-Seite offenbart hatte, sah ich mich mit etlichen verblüffenden Entdeckungen konfrontiert. Doch dass direkt über mir eine Vampirfamilie wohnte, war wohl eine der schockierendsten. Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen. Ich kam vom Unterricht nach Hause, völlig gewöhnlichem Unterricht, der mich an mein Institut denken ließ, das ich vor gar nicht so langer Zeit absolviert hatte. Drei Doppelstunden, ein Dozent, die Hitze, die die weißen Kittel am Körper kleben ließ: Wir hatten einen Hörsaal im Institut für Medizin angemietet. Ich ging nach Hause und trödelte ein wenig herum, verschwand mal im Zwielicht – nur kurz, mehr brachte ich noch nicht zustande –, mal sondierte ich die anderen Fußgänger. Und dann begegnete ich vor der Haustür meinen Nachbarn.
    Sehr nette Menschen. Als ich mir einmal bei ihnen einen Drillbohrer leihen wollte, kam Kostjas Vater Gennadi, von Beruf Bauarbeiter, prompt mit zu mir, um mir im Kampf gegen die Betonwände beizustehen, als sei das nichts – und gab mir anschaulich zu verstehen, dass ein Intelligenzler ohne das Proletariat erledigt ist.
    Und mit einem Mal sah ich, dass sie überhaupt keine Menschen waren.
    Es war schrecklich. Eine braun-graue Aura, eine erdrückende Last. Wie gebannt blieb ich stehen und schaute sie voller Entsetzen an. Polina, Kostjas Mutter, entglitten leicht die Gesichtszüge, der Junge erstarrte und drehte sich weg. Das Familienoberhaupt dagegen kam auf mich zu, mit jedem Schritt weiter ins Zwielicht eindringend, kam mit jenem graziösen Gang auf mich zu, der nur ihnen gegeben ist, den Vampiren, die zugleich lebendig und tot sind. Für sie ist das Zwielicht die ganz natürliche Umwelt.
    Die Welt um uns herum war grau und tot. Ich selbst hatte gar nicht bemerkt, wie ich in seinem Sog ins Zwielicht abgetaucht war.
    »Ich wusste immer, dass du eines Tages diese Barriere überschreiten würdest«, meinte er. »Das ist völlig in Ordnung.«
    Ich trat einen Schritt zurück – und Gennadis Gesicht erzitterte.
    »Da ist wirklich nichts dabei«, versicherte er. Er krempelte den Ärmel seines Hemds auf, sodass ich das Registrierungssiegel sehen konnte, einen hellblauen Abdruck auf grauer Haut. »Wir sind alle registriert. Polina! Kostja!«
    Seine Frau trat ebenfalls ins Zwielicht und knöpfte die Bluse auf. Der Kleine bewegte sich nicht und zeigte das Siegel erst auf einen gestrengen Blick seines Vaters hin.
    »Ich muss das überprüfen«, flüsterte ich. Meine Handbewegungen wollten mir nicht gelingen, zweimal vertat ich mich und musste von vorn anfangen. Geduldig ließ Gennadi alles über sich ergehen. Endlich reagierte das Siegel. Permanente Registrierung, keine Ordnungswidrigkeiten …
    »Alles einwandfrei?«, fragte Gennadi. »Können wir gehen?«
    »Ich …«
    »Schon gut. Wir wussten, dass du irgendwann ein Anderer wirst.«
    »Geht«, sagte ich. Das entsprach zwar nicht den Vorschriften, aber nach denen stand mir jetzt nicht der Sinn.
    »Ja …« Bevor Gennadi aus dem Zwielicht trat, zögerte er kurz. »Ich war in deinem Hause … Fühl dich nicht länger an deine Einladung gebunden, Anton.«
    Alles war völlig korrekt.
    Nachdem sie gegangen waren, setzte ich mich auf eine Bank, neben eine alte Frau, die sich im zarten Sonnenschein wärmte. Bei einer Zigarette versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Die Frau sah mich an.
    »Nette Leute, nicht wahr, Arkaschenka?«, tat sie ihre Meinung kund.
    Nie konnte sie sich meinen Namen merken. Sie hatte noch höchstens zwei, drei Monate zu leben, das erkannte ich jetzt ganz deutlich.
    »Nicht ganz …«, sagte ich. Drei Zigaretten später trottete ich nach Hause. Vor der Tür blieb ich kurz stehen, um zu sehen, wie der graue Weg, der »Vampirpfad«, erlosch. Erst am selben Tage hatte ich gelernt, ihn zu sehen …
    Bis zum Abend trödelte ich herum.

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