1 - Wächter der Nacht
bestimmter Umstände. Den Jungen hat schließlich noch niemand initiiert … Wer hätte wissen können, dass er ins Zwielicht eintreten kann?«
»Ich wusste es.«
Vielleicht trieben mich Erinnerungen. Vielleicht meine Angst, hier in diesem Auto, das wie der Blitz über die Straße jagte. Ich spähte ins Zwielicht hinein.
Wie gut es die Menschen haben, dass sie das nicht sehen – niemals! Wie schlecht sie es haben – denn sie vermögen das nicht zu sehen!
Den tiefen grauen Himmel, an dem es keinen Stern gab und niemals einen geben wird, ein Himmel, zäh wie Brei, der in einem dumpfen, fahlen Licht schimmert. Alle Silhouetten verschwimmen, es zerschmelzen die Häuser, an deren Wänden der blaue Moosteppich wächst, die Bäume, deren Zweige im Zwielicht wogten, ohne sich einen Deut um den Wind zu scheren, und die Straßenlaternen, über denen die Zwielicht-Vögel kreisen, fast ohne mit ihren kurzen Flügeln zu schlagen. Autos kommen uns entgegen – langsamer geht es kaum, die Menschen setzen kaum einen Fuß vor den anderen. Alles wie durch einen grauen Lichtfilter gesehen, wie durch Wattepfropfen in den Ohren gehört. Ein stummer Schwarzweißfilm, das Kleinod eines dekadenten Regisseurs. Die Welt, aus der wir unsere Kräfte schöpfen. Die Welt, die unser Leben trinkt. Das Zwielicht. Wie du hineingehst, so kommst du auch wieder heraus. Der graue Dunst knackt die Schale, die dein Leben lang mit dir wächst, zieht jenen Kern aus ihr heraus, den die Menschen die Seele nennen. Prüft ihn. Und wenn du spürst, wie du zwischen den Kiefern des Zwielichts knirschst, wenn du den durchdringenden kalten Wind wahrnimmst, der ätzend ist wie der Geifer einer Schlange … dann wirst du ein Anderer.
Und entscheidest dich, auf wessen Seite du dich stellst.
»Ist der Junge noch im Zwielicht?«, fragte ich.
»Sie sind alle im Zwielicht …« Ilja war mir nachgetaucht. »Anton, warum hast du das bloß nicht gesagt?«
»Ich habe nicht dran gedacht. Habe dem keine Bedeutung zugemessen. Ich bin kein Fahnder, Ilja.«
Er schüttelte den Kopf.
Wir können einander nicht tadeln, zumindest kaum. Vor allem dann nicht, wenn jemand wirklich schuldig ist. Das ist nicht nötig, denn unsere Strafe lauert um uns herum. Das Zwielicht verleiht uns Kräfte, über die kein Mensch verfügt, gibt uns ein Leben, das nach menschlichem Verständnis nahezu ewig währt. Und nimmt uns alles, wenn die Stunde gekommen ist.
In diesem Sinne führen wir alle ein Leben auf Pump. Nicht nur die Vampire und Tiermenschen, die töten müssen, um ihre seltsame Existenz zu verlängern. Die Dunklen können sich das Gute nicht leisten. Für uns gilt das Gegenteil.
»Wenn ich das nicht schaffe …« Ich ließ den Satz unbeendet. Auch so war alles klar.
Acht
Durchs Zwielicht wirkte das Ganze sogar schön. Auf dem Dach, dem flachen Dach jenes klotzigen »Hauses auf Beinen«, brannten Lichtpunkte in verschiedenen Farben. Das Einzige, was hier Farbe hat, sind unsere Gefühle. Und die gab es reichlich.
Am grellsten strahlte eine sich in den Himmel bohrende Säule aus glutroten Flammen – die Angst und der Zorn der Vampirin.
»Stark ist sie«, sagte Semjon bloß, während er auf das Dach schaute und die Autotür mit dem Fuß zuknallte. Aufseufzend fing er an, sich auszuziehen.
»Was hast du denn vor?«, fragte ich.
»Ich geh über die Wand rauf … über die Balkons. Das rat ich dir auch, Ilja. Nur kletter du im Zwielicht rauf, das ist leichter.«
»Und wie willst du rauf?«
»Ich mach’s auf die althergebrachte Weise. Dann ist die Chance größer, dass sie mich nicht entdeckt. Keine Sorge … Seit sechzig Jahren kraxle ich in den Bergen rum. Ich habe die Fahne der Faschisten vom Elbrus runtergeholt.«
Semjon zog sich bis aufs Hemd aus und warf die Sachen auf die Motorhaube. Unverzüglich wirkte er einen kurzen Schutzzauber, der sich sowohl über sein Zeug wie auch den Angeberschlitten legte.
»Du weißt, was du tust?«, hakte ich nach.
Semjon grinste, erzitterte vor Kälte, machte ein paar Kniebeugen und kreiste mit den Armen wie ein Sportler beim Aufwärmtraining. In lockerem Trab lief er auf das Haus zu. Leichter Schnee fiel ihm auf die Schultern.
»Packt er das?«, fragte ich Ilja. Wie er im Zwielicht die Hauswand hochkam, wusste ich. Theoretisch. Aber ein Aufstieg in der gewöhnlichen Welt, noch dazu ohne jede Ausrüstung …
»Muss er ja wohl«, meinte Ilja ohne rechte Überzeugung. »Als er zehn Minuten lang in der Jausa unter Wasser blieb … dachte
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