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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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auf.
    »Weißt du, es gibt ein Gesetz«, setzte ich an. »Das Gesetz der Zufallspaare. Du hast Schwierigkeiten, doch von denen spreche ich nicht. Ein anderer Mensch hat auch gewaltige Probleme. Persönliche Probleme, aber das macht es nicht leichter.«
    Sie verstand. Und verlor nicht die Fassung – was mir gefiel.
    »Meine Probleme sind auch persönlich«, präzisierte sie lediglich.
    »Nicht ganz«, sagte ich. »Scheint mir.«
    »Und dieser Mensch – kannst du ihm helfen?«
    »Ihm helfen andere«, sagte ich.
    »Bist du sicher? Danke, dass du mir zugehört hast, aber mir kann sowieso niemand helfen. Das Schicksal ist so idiotisch.«
    Schmeißt sie mich raus?, fragte ich durchs Zwielicht. Ich wollte jetzt ihr Bewusstsein nicht berühren.
    Nein, erwiderte Olga. Nein … Sie spürt es, Anton.
    Sollte sie etwa die Fähigkeiten einer Anderen haben? Oder blitzte da, ausgelöst von dem drohenden Inferno, nur zufällig etwas auf?
    Was spürt sie?
    Dass du woanders gebraucht wirst.
    Warum gerade ich?
    Diese wahnsinnige, Blut saugende Bestie … sie will nur mit dir verhandeln. Mit demjenigen, der ihren Partner ermordet hat.
    Jetzt wurde mir richtig schlecht. Bei uns bot man einen fakultativen Kurs zu Antiterrormaßnahmen an, vor allem deshalb, damit wir nicht auf unsere Fähigkeiten als Andere zurückgriffen, wenn wir in menschliche Auseinandersetzungen hineingerieten; für unsere Arbeit wäre das eigentlich nicht nötig. Wir hatten die Psychologie von Terroristen durchgenommen, und in diesem Rahmen handelte die Vampirin völlig logisch. Ich war der erste Mitarbeiter der Wache gewesen, dem sie begegnet war. Ich hatte ihren Mentor getötet und sie selbst verwundet. Für sie verkörperte sich in meiner Person das Feindbild schlechthin.
    Fordert sie das schon lange?
    Seit etwa zehn Minuten.
    Ich sah Swetlana in die Augen. Trockene Augen, ruhig, ohne Tränen. Nie ist es so schwer wie dann, wenn sich der Schmerz hinter einer ruhigen Miene verbirgt.
    »Sweta, und wenn ich jetzt gehe?«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Alles ist so dumm …«, sagte ich. »Ich glaube, du brauchst jetzt Hilfe. Zumindest jemanden, der dir zuhört. Oder hier mit dir zusammensitzt und kalt gewordenen Tee trinkt.«
    Ein schwaches Lächeln und ein kaum wahrnehmbares Nicken.
    »Aber du hast Recht … Noch ein Mensch braucht Hilfe.«
    »Du bist seltsam, Anton.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nicht seltsam. Sehr seltsam.«
    »Ich habe den Eindruck … als ob ich dich schon seit langem kenne, dich aber zum ersten Mal sehe. Und als ob du zugleich mit mir und mit noch jemand anderem sprichst.«
    »Ja«, sagte sich. »So ist es.«
    »Werde ich vielleicht wahnsinnig?«
    »Nein.«
    »Anton … Du bist doch nicht zufällig zu mir gekommen.«
    Ich antwortete nicht. Olga flüsterte etwas und verstummte. Langsam drehte sich über Swetlanas Kopf der riesige Wirbel.
    »Nein«, sagte ich. »Sondern um zu helfen.«
    Wenn der Dunkle Magier, der sie mit dem Fluch belegt hat, uns beobachtet … Wenn das alles doch kein Zufall ist, kein »Fluch einer Mutter«, sondern ein zielgerichteter professioneller Schlag …
    Diese Wolke des Dunkels über Swetlanas Kopf bedurfte nur eines weiteren Tropfens Hass. Es würde genügen, ihren Lebenswillen um ein Geringes zu vermindern. Dann käme es zum Durchbruch. Im Zentrum von Moskau würde ein Vulkan ausbrechen, bei einem Kampfsatelliten die Elektronik durchdrehen, ein Grippevirus mutieren …
    Schweigend sahen wir einander an.
    Ich hatte den Eindruck, dass ich kurz davor war zu durchschauen, was hier in Wahrheit vor sich ging. Des Rätsels Lösung war zum Greifen nah, und alle unsere Versionen waren dumm und banal, all die alten Regeln und Muster, von denen wir uns leiten ließen, auch wenn der Chef gebeten hatte, sie über Bord zu schmeißen. Doch dann musste man nachdenken, musste sich, wenn auch nur für eine Sekunde, von den Geschehnissen losreißen, die nackte Wand anstarren oder den idiotischen Fernseher, sich nicht von dem Wunsch zerreißen lassen, einem einzelnen kleinen Menschen zu helfen und Zehntausenden, Hunderttausenden von Menschen dafür nicht. Dann durfte man sich nicht in jenem Morast bewegen, den diese perfide Wahl darstellt – die bei jeder Entscheidung perfide bliebe, mit dem einzigen Unterschied, dass ich in einem Fall schnell sterben, mit dem Höllenschlag in die grauen Weiten der Zwielicht-Welt übergehen würde, im andern langsam und qualvoll, während in meinem Herzen das matte Feuer der Selbstverachtung

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