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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Dach aufragende Betonkasten des Fahrstuhlschachts gegen ihn. Doch ein weiterer Schritt – und der Wind würde bis auf die Knochen durchdringen.
    »Anton, wir sind hier!«
    Zehn Meter vor mir stand Tigerjunges. Ich sah sie an und beneidete sie einen kurzen Moment lang: Sie jedenfalls spürte die Kälte ganz gewiss nicht.
    Woher Tiermenschen und Magier die Masse zur Transformation des Körpers nahmen, wusste ich nicht. Aus dem Zwielicht wohl nicht, aber sicherlich auch nicht aus der Menschenwelt. In Menschengestalt wog die Frau fünfzig Kilo, vielleicht ein bisschen mehr. Als junge Tigerin, die in Kampfhaltung auf dem überfrorenen Dach stand, brachte sie drei Zentner auf die Waage. Ihre Aura loderte orange auf, über das Fell flossen langsame, träge kleine Funken dahin. Der Schwanz schlug in gleichmäßigem Rhythmus nach links und nach rechts, die rechte Vorderpfote kratzte in einem fort die Dachpappe. An dieser Stelle war das Dach bereits bis zum Beton durchgefetzt – irgendjemand würde im Frühling unter Wasser stehen …
    »Komm her, Anton«, brüllte die Tigerin, ohne sich umzudrehen. »Sie ist hier!«
    Bär war dichter an die Vampirin herangekommen als Tigerjunges. Er sah jetzt noch schrecklicher aus. Diesmal hatte er für die Transformation den Körper eines Eisbären gewählt, der im Unterschied zu den realen Bewohnern der Arktis jedoch schneeweiß war, ganz wie in den Bildern von Kinderbüchern. Ja, er war wohl doch ein Magier, kein Tiermensch, den man umerzogen hatte. Tiermenschen sind an ein, maximal zwei Varianten gebunden, während ich Bär bereits als tollpatschigen Braunbären gesehen hatte – das war, als wir einen Karneval für die amerikanische Delegation der Wache veranstalteten – und als Grizzly beim Anschauungsunterricht für Umwandlungen.
    Die Vampirin stand direkt am Rand des Dachs.
    Sie hatte abgebaut, spürbar abgebaut seit unserer ersten Begegnung. Ihr Gesicht lief noch spitzer zu, die Wangen waren eingefallen. Wie alle Vampire brauchte sie in der ersten Umbauphase des Organismus ständig frisches Blut. Doch sollte man sich durch ihre Erscheinung nicht täuschen lassen: Die Auszehrung ist rein äußerlich, quält sie, entzieht ihr aber keine Kraft. Die Verbrennung im Gesicht war fast abgeklungen, die Spuren kaum noch zu erahnen.
    »Du!« In der Stimme der Vampirin tönte Triumph. Ein erstaunlicher Triumph – als wolle sie nicht mit mir verhandeln, sondern mich opfern.
    »Ich.«
    Jegor stand vor der Vampirin, sie nutzte ihn als Deckung gegen die Fahnder. Der Junge befand sich im Zwielicht, das von der Blutsaugerin erzeugt worden war, und hatte deshalb das Bewusstsein nicht verloren. Er stand schweigend da, bewegte sich nicht, starrte mal mich an, mal Tigerjunges. Auf uns zählte er offenbar am meisten. Die Vampirin hatte dem Jungen eine Hand quer über die Brust gelegt, um ihn an sich zu pressen, die andere hielt sie ihm an den Hals – mit ausgefahrenen Krallen. Die Situation war nicht schwer abzuschätzen. Ein Patt. Für beide Seiten.
    Sollten Tigerjunges oder Bär die Blutsaugerin angreifen, würde sie dem Jungen mit einer einzigen Bewegung den Kopf abreißen. Das würde sich nicht heilen lassen – selbst mit unseren Möglichkeiten nicht. Auf der anderen Seite: Wenn sie den Jungen umbrachte, würde uns nichts mehr aufhalten.
    Man darf den Feind nicht in die Ecke treiben. Vor allem dann nicht, wenn man ihn töten will.
    »Du hast verlangt, dass ich komme. Hier bin ich.« Ich hob die Hände, um zu zeigen, dass ich keine Waffen bei mir trug. Ich ging vorwärts.
    Als ich zwischen Tigerjunges und Bär trat, bleckte die Vampirin die langen Eckzähne. »Stehen bleiben!«
    »Ich habe weder Espenholz noch Kampfamulette. Ich bin kein Magier. Ich kann dir nichts anhaben.«
    »Das Amulett! Um deinen Hals hängt ein Amulett!«
    Das war’s also.
    »Das hat mit dir nichts zu tun. Es schützt mich gegen jemanden, der weit, weit über dir steht.«
    »Nimm’s ab!«
    Oh, oh, das ließ sich nicht gut an … Das ließ sich sogar ganz schlecht an … Ich packte die Kette, riss das Amulett ab und ließ es fallen. Wenn Sebulon wollte, konnte er jetzt versuchen, mich zu beeinflussen.
    »Ich hab’s abgenommen. Jetzt sprich. Was willst du?«
    Die Vampirin verdrehte den Kopf – ihr Hals vollbrachte ohne weiteres eine Drehung um 360 Grad. Oho! So was war mir bisher nicht mal zu Ohren gekommen – und unsern Kampfspezis offenbar auch nicht: Tigerjunges knurrte auf.
    »Da schleicht noch jemand rum!« Die

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