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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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trübe, verbrauchte magische Kristalle lagen wüst durcheinander.
    Doch die Krönung des Chaos bildete ein Spirituskocher, über dem in einem Tiegel ein weißes Pulver vor sich hin brutzelte.
    Gedankenversunken rührte der Chef es mit der Spitze seines teuren Parkers um und wartete offensichtlich auf einen bestimmten Effekt. Das Pulver ignorierte sowohl die Hitze als auch das Rühren.
    »Bitte.« Ich legte die DVD vor den Chef.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte Boris Ignatjewitsch, ohne den Blick zu heben. Er hatte das Jackett ausgezogen, das Hemd war zerknittert, die Krawatte zur Seite gerutscht.
    Heimlich schielte ich zum Sofa hinüber. Olga war zwar nicht mehr im Arbeitszimmer, doch auf dem Boden standen eine leere Sektflasche und zwei Gläser.
    »Weiß ich auch nicht. Ich habe keine Dunklen getötet – jedenfalls nicht diese. Das wissen Sie doch.«
    »Ja.«
    »Aber beweisen kann ich es nicht.«
    »Nach meinen Berechnungen bleiben uns zwei, drei Tage«, sagte der Chef. »Dann wird die Tagwache dir die Anklage präsentieren.«
    »Es wäre nicht schwer, mir ein falsches Alibi zu besorgen.«
    »Wärest du denn damit einverstanden?«, wollte Boris Ignatjewitsch wissen.
    »Natürlich nicht. Darf ich etwas fragen?«
    »Bitte.«
    »Woher stammen alle diese Informationen? Woher kommen die Bilder und die Videoaufnahmen?«
    Der Chef schwieg einen Augenblick.
    »Das dachte ich mir. Du hast dir doch auch mein Dossier angesehen, Anton. Ist das vielleicht diskreter?«
    »Nein, vermutlich nicht. Deshalb frage ich ja auch. Warum erlauben Sie es, dass solche Informationen zusammengetragen werden?«
    »Ich kann es nicht verbieten. Die Kontrolle obliegt der Inquisition.«
    Die idiotische Frage »Gibt es die denn wirklich?« konnte ich mir im letzten Moment verbeißen. Vermutlich sprach meine Miene aber Bände.
    Der Chef sah mich unverwandt an, als erwarte er weitere Fragen, dann fuhr er fort: »Pass auf, Anton. Von jetzt an darfst du nicht mehr allein bleiben. Vielleicht gerade mal noch ohne Begleitung zur Toilette gehen, aber ansonsten hast du mit zwei oder drei Zeugen zusammen zu sein. Es besteht die Hoffnung, dass ein weiterer Mord geschieht.«
    »Wenn sie es wirklich auf mich abgesehen haben, wird kein weiterer Mord geschehen, solange ich ein Alibi habe.«
    »Und genau das wirst du nicht haben.« Der Chef schmunzelte. »Du solltest mich nicht für einen alten Idioten halten.«
    Ich nickte, unsicher, denn noch hatte ich nicht begriffen, worauf er hinauswollte.
    »Olga …«
    In der Wand öffnete sich eine Tür, die ich bislang für eine Schranktür gehalten hatte. Olga trat ins Zimmer, strich sich übers Haar und lächelte. So eng wie die Jeans und die Bluse an ihrem Körper hafteten, musste sie gerade heiß geduscht haben. Hinter ihr machte ich einen riesigen Jacuzzi-Whirlpool aus sowie ein Panoramafenster, das die ganze Wand einnahm – und vermutlich nach außen verspiegelt war.
    »Schaffst du das, Olga?«, erkundigte sich der Chef. Offenbar spielte er auf etwas an, worüber sie schon gesprochen hatten.
    »Allein? Nein.«
    »Ich meine das andere.«
    »Das ja, natürlich.«
    »Stellt euch Rücken an Rücken«, befahl der Chef.
    Streiten wollte ich mich nicht. Obwohl mich ein mulmiges Gefühl beschlich. Doch ich ahnte, dass etwas sehr Ernstes bevorstand.
    »Und öffnet euch«, verlangte Boris Ignatjewitsch.
    Ich schloss die Augen bis auf einen Spalt und entspannte mich. Olgas Rücken war heiß und feucht, selbst durch die Bluse hindurch. Was für ein seltsames Gefühl: dazustehen und eine Frau zu berühren, die gerade erst Liebe gemacht hat – aber nicht mit dir.
    Nein, ich war nicht die Spur von verliebt in sie. Vielleicht, weil ich mich daran erinnerte, wie sie in ihrem Vogelkörper aussah, vielleicht, weil wir sehr schnell Freunde und Partner geworden waren. Vielleicht wegen der Jahrhunderte, die uns voneinander trennten: Was heißt schon ein junger Körper, wenn du den Staub der Jahrhunderte auf den Augen anderer siehst. Wir blieben Freunde, mehr nicht.
    Doch neben einer Frau zu stehen, deren Körper sich noch der Liebkosungen eines anderen erinnert, und sich an sie zu schmiegen ist ein seltsames Gefühl …
    »Fangen wir an …«, sagte der Chef, vielleicht mit überflüssiger Schärfe in der Stimme. Dann sprach er einige Worte aus, deren Sinn ich nicht verstand, Wörter in einer alten Sprache, die vor Jahrtausenden auf der Welt erklungen ist.
    Ein Flug.
    Und zwar ein richtiger – als ob die Erde unter den Füßen

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