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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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massierte mir den Nacken – immer schläft der ein, wenn du dahockst, auf den Monitor starrst – und stellte die Kaffeemaschine an.
    Weder der Chef noch Ilja oder Semjon kamen für die Rolle des irrsinnigen Mörders der Dunklen in Frage. Alle hatten ein Alibi, in einigen Fällen sogar ein hiebund stichfestes. Semjon zum Beispiel hatte in einer Mordnacht ausgerechnet mit der Leitung der Tagwache bei Verhandlungen zusammengesessen. Ilja war auf Geschäftsreise in Sachalin, wo sich die Kollegen ein Süppchen eingebrockt hatten, das sich nur mit Hilfe aus dem Zentrum auslöffeln ließ.
    Nur ich stand nach wie vor unter Verdacht.
    Nicht, dass ich Tolik nicht vertraute. Trotzdem schaute ich mir meine eigenen Daten noch einmal selbst an. Alles passte, für keinen Fall hatte ich ein A-libi.
    Der Kaffee schmeckte nicht, war bitter, anscheinend hatten sie den Filter schon seit längerem nicht ausgetauscht. Ich schluckte das heiße Gebräu hinunter, starrte auf den Bildschirm, zog mein Handy heraus und gab die Nummer des Chefs ein.
    »Sprich, Anton.«
    Er wusste immer, wer ihn anrief.
    »Es bleibt nur ein Verdächtiger übrig, Boris Ignatjewitsch.«
    »Und wer, bitte schön?«
    Seine Stimme klang hart und förmlich. Trotzdem hatte ich den Eindruck, der Chef säße gerade halb nackt auf seinem Ledersofa, in der einen Hand ein Glas Sekt, die andere mit Olgas Hand verschränkt, während er den Hörer mit der Schulter ans Ohr presste oder ihn levitieren ließ.
    »Aber, aber …«, wies mich der Chef in die Schranken. »Als Hellseher taugst du nichts. Wer ist verdächtig?«
    »Ich.«
    »Verstehe.«
    »Sie haben das gewusst«, sagte ich.
    »Wie das?«
    »Es bestand keine Notwendigkeit, gerade mich die Dossiers bearbeiten zu lassen. Sie hätten das auch selbst machen können. Also wollten Sie, dass ich mich selbst von der Gefahr überzeuge.«
    »Möglich.« Der Chef seufzte. »Was wirst du jetzt tun, Anton?«
    »Mich auf Wasser und Brot einstellen.«
    »Komm in mein Arbeitszimmer. In … äh … in zehn Minuten.«
    »Gut.« Ich beendete das Gespräch.
    Zunächst schaute ich bei den Mädchen vorbei. Tolik war noch immer bei ihnen, und sie arbeiteten eifrig.
    Im Grunde brauchte die Wache diese beiden hundsmiserablen Programmiererinnen nicht. Sie hatten nur zu wenig Geheimnissen Zugang, den Großteil der Arbeit mussten wir machen. Doch wo sollte man sonst zwei sehr, sehr schwache Zauberinnen unterbringen? Wenn sie damit einverstanden gewesen wären, ein normales Leben zu führen – aber nein, sie verlangten nach Romantik, wollten unbedingt in der Wache arbeiten … Also hatte man sich eine Aufgabe für sie ausgedacht.
    Im Wesentlichen schlugen sie die Zeit tot, surften im Internet oder spielten etwas, wobei ihr absoluter Favorit Patiencen jeder Art waren.
    An einem der freien Rechner – mit der Ausstattung gab es bei uns keine Probleme – saß Tolik. Auf seinem Schoß hockte Julja, die verbissen mit der Maus über das Pad fuhrwerkte.
    »Nennt sich das Ausbildung am Computer?«, fragte ich, während ich die über den Bildschirm flimmernden Monster beobachtete.
    »Nichts schult die Handhabung der Maus besser als Computerspiele«, beteuerte Tolik mit Unschuldsmiene.
    »Nun …« Eine passende Antwort wollte mir nicht einfallen.
    Ich selbst spielte solche Spiele schon lange nicht mehr. Wie die meisten Mitarbeiter der Wache nicht. Ein Monster auf dem Bildschirm zu töten ist nur so lange interessant, bis man mal mit eigenen Augen eins sieht. Oder bereits ein-, zweihundert Jahre auf dem Buckel und sich dabei eine gehörige Portion Zynismus zugelegt hat, so wie Olga
    »Tolik, ich komme heute wahrscheinlich nicht noch mal rein«, sagte ich.
    »Okay.« Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, ist zwar bei uns allen nicht sehr hoch, doch derartige Kleinigkeiten spüren wir sofort.
    »Galja, Lena, tschüss dann«, meinte ich mit einem Nicken zu den beiden Mädchen. Galja zwitscherte etwas Freundliches und brachte unmissverständlich zum Ausdruck, wie sehr ihre Arbeit sie in Anspruch nahm.
    »Kann ich heute etwas früher gehen?«, fragte Lena.
    »Natürlich.«
    Wir lügen einander nicht an. Wenn Lena darum bittet, früher zu gehen, heißt das, dass sie es wirklich musste. Wir lügen nicht. Wir sagen nur manchmal Spitzfindigkeiten und Halbwahrheiten … Auf dem Tisch des Chefs herrschte fürchterliche Unordnung. Füller, Bleistifte, einzelne Seiten Papier, Berichtsmappen mit erbrochenem Siegel und

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