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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Geruch?
    Im Gebäude der Wache wird nur ein Teil der Fächer unterrichtet. Andere Kurse lassen sich besser nachts im Leichenschauhaus absolvieren, wo wir unsere Leute haben. Manches wird uns vor Ort beigebracht. Wieder anderes im Ausland, bei Urlaubsreisen, die die Wache finanziert. Im Zuge meiner Ausbildung war ich auf Haiti, in Angola, in den Staaten und in Spanien gewesen.
    Trotzdem gibt es einige Veranstaltungen, die nur auf dem Gelände der Wache abgehalten werden können, in dem Gebäude, das vom Fundament bis zum Dach durch Magie und Schutzzauber versiegelt ist. Als die Wache vor dreißig Jahren in dieses Haus gezogen ist, wurden drei Hörsäle eingerichtet, jeder für fünfzehn Personen. Bis heute ist mir unklar, was damals eigentlich überwog: der Optimismus der Mitarbeiter oder das Überangebot an Raum. Selbst während meines Studiums – und das war ein sehr erfolgreiches Jahr für die Wache – reichte uns ein Hörsaal, und sogar der blieb noch zur Hälfte leer.
    Im Moment wurden in der Wache vier Andere ausgebildet. Und nur bei Swetlana ging man davon aus, dass sie bei uns bleiben, dass sie es nicht vorziehen würde, ein normales menschliches Leben zu führen.
    Leer war es hier, leer und still. Langsam ging ich den Korridor entlang, schaute in die verlassenen Hörsäle hinein, um die uns selbst eine hervorragend ausgestattete und erfolgreiche Universität hätte beneiden können. Zu jedem Tisch gehörte ein Notebook, in jedem Raum gab es einen Fernseher mit riesigem Bildschirm, die Schränke bogen sich unter den Büchern. Hätte diese Bücher je ein Historiker gesehen, ein ganz normaler Historiker, kein Geschichtsverdreher …
    Doch sie würden sie niemals zu Gesicht bekommen.
    In einigen dieser Bücher standen zu viele Wahrheiten geschrieben. In anderen zu wenige Lügen. Menschen sollten dergleichen nicht lesen, um ihres Friedens willen sollten sie das nicht. Mögen sie ruhig mit der Geschichte leben, an die sie gewöhnt sind.
    Am Ende des Korridors hing ein überdimensionaler Spiegel, der die ganze Stirnseite einnahm. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich hinein: Durch den Flur lief hüftschwenkend eine junge attraktive Frau.
    Ich geriet ins Stolpern und wäre beinah hingefallen. Obwohl Olga alles getan hatte, um mir das Leben zu erleichtern, hatte sie den Schwerpunkt des Körpers nicht verschieben können. Sobald es mir gelang, mein Äußeres zu vergessen, klappte alles mehr oder weniger einwandfrei, funktionierten die motorischen Fähigkeiten. Kaum fing ich jedoch an, mich zu beobachten, lief alles aus dem Ruder. Ich atmete sogar anders, irgendwie gelangte die Luft nicht wie sonst in die Lungen.
    Ich trat an die letzte Tür heran, die verglast war. Vorsichtig schaute ich in den Raum.
    Der Unterricht ging gerade zu Ende.
    Heute hatten sie Alltagsmagie – erkannte ich in dem Moment, als ich neben der Schautafel Polina Wassiljewna erblickte. Was ihr Äußeres angeht, ist sie eine der ältesten Mitarbeiterinnen der Wache, von ihrem eigentlichen Alter her jedoch keineswegs. Aber man hatte sie erst im Alter von dreiundsechzig Jahren entdeckt und initiiert. Wer hätte denn ahnen können, dass die Alte, die sich in den schlimmen Nachkriegsjahren etwas Geld mit Kartenlegen zuverdiente, tatsächlich über gewisse Fähigkeiten verfügt? Zudem ganz beachtliche, nur eben sehr spezielle.
    »Und jetzt, wenn ihr mal in aller Schnelle eure Kleidung in Ordnung bringen müsst«, dozierte Polina Wassiljewna, »könnt ihr das in wenigen Minuten erledigen. Vergesst nur nicht, euch vorab zu vergewissern, wofür eure Kräfte reichen. Sonst blamiert ihr euch womöglich.«
    »Und sobald es Mitternacht schlägt, verwandelt sich deine Kutsche in einen Kürbis«, sagte ein junger Mann laut, der neben Swetlana saß. Ich kannte ihn nicht, er studierte erst den zweiten oder dritten Tag hier, doch er war mir von vornherein unsympathisch.
    »Ganz genau!«, erklärte Polina begeistert, die in jeder neuen Klasse mit derlei Geistesblitzen konfrontiert wurde. »Die Märchen lügen nicht weniger als die Statistiken! Trotzdem enthalten sie manchmal einen Funken Wahrheit.«
    Sie nahm einen sorgfältig gebügelten, eleganten, wiewohl ein wenig altmodischen Smoking vom Tisch. In so einem hat sich wohl James Bond unter die Leute begeben.
    »Wann verwandelt er sich wieder in Lumpen?«, fragte Swetlana sachlich.
    »In zwei Stunden«, gab Polina ebenso knapp Auskunft. Sie hängte den Smoking auf einen Bügel und wandte sich wieder der Schautafel

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