Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
der Schweiß stärker aus den Poren.
    Natürlich wurde selbst in diesem Dossier der richtige Name und die Herkunft des Chefs nicht preisgegeben, für Andere seines Rangs werden derlei Fakten grundsätzlich nicht dokumentiert. Trotzdem entdeckte ich alle Augenblicke etwas Neues. Angefangen damit, dass der Chef viel älter war, als ich vermutet hatte. Mindestens anderthalb Jahrhunderte älter. Das hieß, er war dabei, als der Vertrag zwischen Lichten und Dunklen abgeschlossen wurde. Merkwürdig, alle Magier von damals, die noch am Leben sind, haben heute Posten in der Hauptverwaltung, statt auf der öden und eintönigen Stelle als Regionaldirektor zu hocken.
    Darüber hinaus erfuhr ich einige Namen, unter denen der Chef bereits in die Geschichte der Wache eingegangen war, sowie seinen Geburtsort. Darüber spekulierten wir immer wieder, schlossen Wetten ab, brachten »unwiderlegliche« Beweise bei. Niemand hatte jedoch vermutet, dass Boris Ignatjewitsch aus Tibet stammte.
    Und bei wem er schon alles Mentor gewesen ist, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt!
    In Europa arbeitete der Chef seit dem 15. Jahrhundert. Aufgrund indirekter Hinweise schlussfolgerte ich, dass der Grund für diesen radikalen Wechsel des Wohnsitzes eine Frau gewesen war. Und ahnte sogar, welche.
    Nachdem ich das Fenster mit den allgemeinen Angaben geschlossen hatte, schaute ich zu Tolik hinüber. Der sah sich gerade einen Videoausschnitt an – natürlich war meine Biografie bei weitem nicht so spannend wie die Vita des Chefs. Ich betrachtete das kleine bewegte Bild genauer – und wurde knallrot.
    »Für den ersten Fall hast du ein einwandfreies Alibi«, sagte Tolik, ohne sich umzudrehen.
    »Hör mal …«, setzte ich hilflos an.
    »Schon gut. Geht mich ja nichts an. Ich spule vor, um die ganze Nacht zu checken …«
    Ich stellte mir vor, wie der Film wohl im Schnelldurchlauf aussehen würde, und drehte mich wieder um. Ich hatte ja immer geahnt, dass die Leitung ihre Mitarbeiter kontrolliert, vor allem die jungen. Aber nicht auf eine derart zynische Weise!
    »Das Alibi ist nicht wasserdicht«, sagte ich. »Gleich zieh ich mich an und geh.«
    »Ich seh’s schon«, bestätigte Tolik.
    »Anderthalb Stunden bin ich nicht zu sehen. Ich habe versucht, irgendwo Sekt aufzutreiben … und als ich welchen hatte, mich noch ein bisschen an der frischen Luft ausgenüchtert. Und überlegt, ob es sich überhaupt lohnt zurückzugehen.«
    »Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte Tolik. »Guck dir lieber das Intimleben des Chefs an.«
    Nach einer halben Stunde wurde mir klar, dass Tolik Recht hatte. Möglicherweise durfte ich die gnadenlose Beobachtung ja krumm nehmen. Doch dann hatte Boris Ignatjewitsch nicht weniger Grund zur Klage.
    »Der Chef hat ein Alibi«, sagte ich. »Ein unerschütterliches. In zwei Fällen können es vier Leute bezeugen. In einem anderen fast die ganze Wache.«
    »Ist das bei dieser Jagd nach dem durchgedrehten Dunklen?«
    »Ja.«
    »Du hast noch nicht mal in dem Fall ein Alibi. Du wurdest erst am Morgen hinzugezogen, die Zeitangabe ist da sehr unpräzise. Es gibt ein Foto, wie du aus dem Büro kommst, das ist aber auch schon alles.«
    »Das heißt …«
    »Theoretisch hättest du die Dunklen ermorden können. Ohne weiteres. Und außerdem, entschuldige Anton, geschah jeder Mord in einer Zeit, da deine Gefühle in Aufruhr waren. Wo du dich anscheinend nicht mehr unter Kontrolle gehabt hast.«
    »Ich war das nicht.«
    »Glaub ich dir ja. Was soll ich mit der Datei machen?«
    »Lösch sie.«
    Tolik überlegte kurz. »Auf der Festplatte liegt nichts Wichtiges. Ich mache eine Low-Level-Formatierung. Hätte die Platte schon längst mal bereinigen sollen.«
    »Danke.« Ich schloss das Dossier über den Chef. »Gut, mit den anderen komme ich allein weiter.«
    »Schon verstanden.« Tolik überwand den berechtigten Unmut seines Computers, und der begann, sich selbst zu verdauen.
    »Geh zu den Mädels«, schlug ich ihm vor. »Mach ein finsteres Gesicht. Die legen doch nur wieder Patiencen, da bin ich überzeugt.«
    »Klar doch«, stimmte mir Tolik leichthin zu. »Wann bist du fertig?«
    »So in zwei Stunden.«
    »Dann schau ich wieder rein.«
    Er ging zu unseren »Mädels«, zwei jungen Programmiererinnen, die größtenteils mit der im Wesentlichen offiziellen Tätigkeit der Wache befasst waren. Ich machte mich wieder an die Arbeit. Als Nächster kam Semjon an die Reihe. Nach zweieinhalb Stunden riss ich mich vom Rechner los,

Weitere Kostenlose Bücher