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1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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wegkippte, als ob der Körper sein Gewicht verlöre. Ein Orgasmus in der Schwerelosigkeit, eine Dosis LSD direkt ins Blut, Elektroden an den Lustzentren unter der Großhirnrinde …
    Mich überflutete eine Welle von solch irrsinniger und reiner, durch nichts gerechtfertigter Freude, dass die Welt ihre Bedeutung für mich verlor. Ich wäre gefallen, doch die Kraft, die aus den erhobenen Armen des Chefs strömte, hielt Olga und mich an unsichtbaren Fäden, nötigte uns Verrenkungen ab, presste uns aneinander.
    Und dann verhedderten sich die Fäden. »Du wirst entschuldigen, Anton«, sagte Boris Ignatjewitsch. »Aber uns blieb keine Zeit zum Zögern oder für Erklärungen.«
    Ich schwieg. Schwieg dumm und betäubt vor mich hin, während ich auf dem Boden saß und meine Hände betrachtete, die schlanken Finger mit den beiden Silberringen, meine Beine, diese langen wohlgeformten Beine, die noch feucht waren nach dem Bad und an denen die zu engen Jeans klebten, und meine kleinen Füße, die in leuchtenden weiß-hellblauen Turnschuhen steckten.
    »Das ist nicht für lange«, versicherte der Chef.
    »Was ist das für …« Ich wollte schimpfen – und zuckte zusammen, schnellte hoch und verstummte bei den ersten Tönen meiner Stimme. Einer tiefen, weichen Frauenstimme.
    »Anton, ganz ruhig.« Der junge Mann, der neben mir stand, streckte die Hand aus und half mir beim Aufstehen.
    Ohne diesen Halt wäre ich vermutlich gefallen. Das Zentrum meines Gewichts hatte sich verschoben. Ich war jetzt kleiner, sah die Welt aus einem völligen anderen Blickwinkel …
    »Olga?«, fragte ich, während ich in mein ehemaliges Gesicht schaute. Meine Partnerin und jetzt auch Bewohnerin meines Körpers nickte. Verzweifelt schaute ich ihr – mein – Gesicht an und bemerkte, dass ich mich heute Morgen schlecht rasiert hatte. Außerdem reifte auf meiner Stirn ein kleiner roter Pickel heran, der einem Jungen in der Pubertät alle Ehre gemacht hätte.
    »Anton, ganz ruhig. Ich wechsle auch zum ersten Mal das Geschlecht.«
    Aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr. Ungeachtet ihres Alters brauchte Olga noch nie in eine derart delikate Situation gekommen sein.
    »Hast du dich eingelebt?«, fragte der Chef.
    Immer noch blickte ich an mir herab, hob mal die Hand zum Gesicht, erhaschte mal mein Spiegelbild in den Glastüren der Vitrinen.
    »Komm mit!« Olga packte mich beim Arm. »Boris, wir sind gleich wieder da …« Ihre Bewegungen waren genauso unsicher wie meine. Wenn nicht noch mehr. »Beim Licht und beim Dunklen, wie um alles geht ihr Männer bloß?«, rief sie unvermittelt aus.
    Daraufhin platzte ich los; erkannte die Ironie des Ganzen. Mich, den die Dunklen provozieren wollten, verbarg man, indem man mich in einen Frauenkörper steckte! In den Körper der Geliebten des Chefs, die so alt war wie Notre-Dame von Paris!
    Olga schubste mich förmlich ins Bad – unwillkürlich freute ich mich über meine eigene Kraft – und drückte mich über die Wanne. Dann spritzte sie mir einen Strahl kalten Wassers aus der Brause ins Gesicht, die sie zuvor in weiser Voraussicht auf die zart rosafarbenen Kacheln gelegt hatte.
    Schnaubend befreite ich mich aus ihren Händen. Ich vermochte den Wunsch, sie – oder doch mich? – zu ohrfeigen, kaum zu unterdrücken. Allem Anschein nach wachten die motorischen Routinen des fremden Körpers langsam auf.
    »Ich habe keinen hysterischen Anfall«, sagte ich verärgert. »Das ist wirklich komisch.«
    »Bestimmt nicht?« Olga kniff die Augen zusammen und sah mich an. Ist das etwa mein Blick, wenn ich versuche, Wohlwollen auszudrücken, in das sich Zweifel mischt?
    »Ganz bestimmt nicht.«
    »Dann schau dich an.«
    Ich ging zum Spiegel, der genauso groß und prachtvoll war, wie alles in diesem geheimen Badezimmer, und sah mich an.
    Das Ergebnis war seltsam. Während ich mein neues Aussehen betrachtete, beruhigte ich mich. Wahrscheinlich hätte es mich mehr schockiert, wenn ich in einem anderen männlichen Körper gelandet wäre. A-ber so blieb nur das Gefühl einer gerade begonnenen Maskerade.
    »Du manipulierst mich doch nicht?«, fragte ich. »Du oder der Chef?«
    »Nein.«
    »Dann hab ich starke Nerven.«
    »Dein Lippenstift ist verwischt«, stellte Olga fest. Und kicherte. »Kannst du dir die Lippen nachziehen?«
    »Spinnst du? Natürlich nicht.«
    »Ich bring’s dir bei. Nicht schwer zu lernen. Du hast echt Glück gehabt, Anton.«
    »Wieso das?«
    »Eine Woche später – und du hättest lernen müssen, wie man

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