1 - Wächter der Nacht
sie zustimmend. »Bist du sicher, dass ich nicht auf Anton zu warten brauche?«
»Absolut«, erwiderte ich im Brustton der Überzeugung. »Nehmen wir das Auto?«
»Bist du heute zu Fuß gekommen?«
Blödmann!
Ich hatte völlig vergessen, dass Olga allen anderen Transportmitteln jenen Sportwagen vorzog, den ihr der Chef geschenkt hatte.
»Deshalb frag ich ja: Wollen wir fahren?«, erklärte ich, wobei mir klar war, dass ich wie ein Idiot dastand. Nein, schlimmer noch: wie eine Idiotin.
Sweta nickte. Die Irritation in ihrem Blick wuchs und wuchs.
Nur gut, dass ich fahren konnte. Nie hatte mich das zweifelhafte Verlangen gepackt, in dieser Riesenstadt mit ihren beschissenen Straßen ein Auto zu besitzen, doch unser Lehrplan sah vieles vor. Manches kriegen wir auf normale Weise beigebracht, manches wird durch Magie in unser Bewusstsein eingeprägt. Auto fahren hatte ich wie jeder gewöhnliche Mann gelernt, aber wenn mich der Zufall in das Cockpit eines Hubschraubers oder eines Flugzeugs verschlagen sollte, dann würden sich Fähigkeiten melden, von denen ich im Normalzustand nicht mal etwas ahnte. Müssten sich melden – theoretisch zumindest.
Die Autoschlüssel fand ich in der Handtasche. Der orangefarbene Wagen wartete auf dem Parkplatz vor dem Haus auf uns, unter den Argusaugen der Wachleute. Die Türen waren verschlossen, was angesichts des zurückgeklappten Dachs des Sportwagens einfach absurd wirkte.
»Fährst du?«, fragte Swetlana.
Schweigend nickte ich. Ich setzte mich hinters Steuer und ließ den Motor an. Mir fiel ein, dass Olga immer wie aus der Pistole geschossen davonjagte, aber das brachte ich nicht fertig.
»Olga, irgendwas stimmt mit dir nicht«, sprach Swetlana ihre Gedanken schließlich laut aus. Während wir auf den Leningrader Prospekt fuhren, nickte ich.
»Sweta, wir besprechen alles, wenn wir bei dir sind.«
Sie sagte nichts mehr.
Als Autofahrer kann man mich vergessen. Wir brauchten lange, viel länger als nötig. Dennoch stellte Swetlana keine weiteren Fragen, sondern saß nur mit zurückgelehntem Kopf da und starrte stur geradeaus. Als ob sie meditierte oder versuchte, durchs Zwielicht zu sehen. Wenn wir im Stau standen, versuchten mehrmals Männer aus anderen Autos, mich anzusprechen – und zwar immer Männer in den teuersten Wagen. Offenbar schufen sowohl unser Äußeres wie auch unser Auto eine unsichtbare Hürde, die sich nicht jeder zu überschreiten traute. Sie ließen die Scheiben herunter, kurzhaarige Köpfe beugten sich heraus, manchmal erschien als obligatorisches Attribut noch ein Arm mit einem Mobiltelefon. Anfangs war mir das einfach unangenehm. Nach einer Weile fand ich es komisch. Am Ende hörte ich auf, überhaupt noch darauf zu reagieren – genauso wie Swetlana nicht darauf reagierte.
Ob sich Olga wohl über diese Versuche, sie kennen zu lernen, amüsierte?
Vermutlich schon. Nach Jahrzehnten in einem nichtmenschlichen Körper, nach der Gefangenschaft in einer Glasvitrine.
»Olga, warum hast du mich abgeholt? Warum sollte ich nicht auf Anton warten?«
Ich zuckte mit den Schultern. Die Versuchung zu antworten: »Weil er hier ist, neben dir«, war groß. Die Gefahr, dass man uns observierte, dürfte gering sein. Auch das Auto schirmten Sicherheitszauber ab, die ich zum Teil wahrnehmen konnte, die zum Teil aber jenseits meiner Fähigkeiten lagen.
Doch ich beherrschte mich.
Swetlana hatte den Kurs zur Informationssicherheit noch nicht besucht, er begann erst, wenn man drei Monate der Ausbildung hinter sich hatte. Meiner Ansicht nach sollte er ruhig früher angeboten werden, doch für jeden Anderen muss ein eigenes Programm ausgearbeitet werden, und das braucht Zeit.
Nach dieser schmerzhaften Erfahrung würde Swetlana gelernt haben, wann sie schweigen musste und wann sie reden durfte. Das ist gleichzeitig der leichteste und der anspruchsvollste Kurs in der gesamten Ausbildung. Dir werden einfach streng dosierte Informationen gegeben, in einer ganz bestimmten Reihenfolge. Ein Teil des Gehörten ist wahr, ein Teil gelogen. Einiges wird dir frei und offen gesagt, anderes als schreckliches Geheimnis anvertraut, und wieder anderes erfährst du »zufällig«, belauschst du, beobachtest du heimlich.
Und alles, alles, was du erfährst, wird in dir gären, dir Schmerzen und Schrecken bereiten, aus dir hervorbrechen, dir das Herz zerreißen, nach spontanen unüberlegten Reaktionen verlangen. In den Vorlesungen werden sie dir allerlei Blödsinn erzählen, der im
Weitere Kostenlose Bücher