1 - Wächter der Nacht
Allgemeinem für das Leben eines Anderen völlig belanglos ist. Denn die wichtigste Erprobung und Lehre vollzieht sich in deiner Seele.
Dass jemand wirklich daran zerbricht, kommt kaum vor. Es ist eben doch ein Teil der Ausbildung, keine Prüfung. Und jeder bekommt die Latte nur in der Höhe aufgelegt, die er auch nehmen kann – bei Aufbietung aller Kräfte, sodass Hautfetzen und Blutspritzer an dieser Hürde kleben bleiben, die aus Stacheldraht geflochten ist.
Doch wenn den Kurs jemand besucht, an dem dir gelegen ist oder der dir einfach nur sympathisch ist, dann zerfleischt es dich, reißt dich in Stücke. Du fängst einen seltsamen Blick auf und grübelst, was dein Freund im Rahmen des Kurses erfahren hat. Welche Wahrheit? Welche Lüge?
Und was der Auszubildende wohl über sich selbst erfahren hat, über die Welt um ihn herum, seine Eltern und Freunde.
Dann kommt ein Wunsch auf, ein schrecklicher, unerträglicher Wunsch. Der Wunsch zu helfen. Zu erklären, anzudeuten, vorzusagen.
Bloß dass niemand, der diesen Kurs hinter sich hat, diesem Wunsch freien Lauf lässt. Denn genau das kriegst du unter Schmerzen beigebracht – was man wann sagen kann und muss.
Im Grunde kann und muss man alles sagen. Nur zur richtigen Zeit, denn sonst ist die Wahrheit schlimmer als die Lüge.
»Olga?«
»Du wirst es verstehen«, sagte ich. »Gedulde dich noch ein wenig.«
Nachdem ich durchs Zwielicht gespäht hatte, raste ich weiter, quetschte mich zwischen einem kastigen Jeep und einem sperrigen Militärtransporter hindurch. Dabei knickte der Spiegel ein, der den Transporter seitlich streifte – mir war das alles egal. Ich schoss als Erster über die Kreuzung, fuhr mit quietschenden Reifen um die Kurve und raste die Chaussee der Enthusiasten hinunter.
»Liebt er mich?«, fragte Swetlana plötzlich. »Sag schon, ja oder nein? Du weißt es doch, oder?«
Ich zuckte zusammen, das Auto schlingerte, doch Swetlana achtete nicht darauf. Sie stellte diese Frage nicht zum ersten Mal, das spürte ich. Olga und sie hatten bereits darüber gesprochen, das heikle Thema war aber noch nicht abgeschlossen.
»Oder liebt er dich?«
Das war’s. Jetzt musste ich etwas sagen.
»Anton hat eine gute Beziehung zu Olga.« Ich redete sowohl über mich wie auch über die Besitzerin meines Körpers in der dritten Person. Das ist demonstrativ, wirkt aber einfach wie kalte, distanzierte Freundlichkeit. »Eine Freundschaft unter Kameraden. Mehr nicht.«
Wenn sie Olga die Frage stellen würde, wie diese zu mir stehe, würde es schwieriger werden, nicht zu lügen.
Doch Swetlana schwieg. Nach einer Minute berührte sie kurz meine Hand, als wolle sie sich entschuldigen.
Jetzt war ich es, der seine Neugier nicht zu zügeln vermochte. »Warum willst du das denn wissen?«
»Ich verstehe ihn nicht«, antwortete sie leichthin, ohne lange zu überlegen. »Anton benimmt sich sehr seltsam. Manchmal habe ich den Eindruck, er sei verrückt nach mir. Und manchmal, dass ich für ihn nur eine von hundert Bekannten bin, die er bei den Anderen hat. Eine Kameradin.«
»Der Knoten des Schicksals«, antwortete ich knapp.
»Was?«
»Das habt ihr noch nicht durchgenommen, Sweta.«
»Dann erklär es mir!«
»Du weißt«, ich trat das Gaspedal weiter und weiter durch, vermutlich meldeten sich allmählich die motorischen Reflexe des fremden Körpers zu Wort, »du weißt, als er das erste Mal bei dir vorbeigekommen ist …«
»Ich weiß, dass er mir da etwas eingeflüstert hat. Das hat er mir erzählt«, fiel Swetlana mir ins Wort.
»Das meine ich nicht. Die Suggestion wurde aufgehoben, als du die Wahrheit erfahren hast. Aber wenn du lernst, das Schicksal zu sehen – und das wirst du bald lernen und viel besser können als ich –, dann wirst du es verstehen.«
»Man hat uns gesagt, dass das Schicksal veränderlich ist.«
»Das Schicksal ist polyvariabel. Als Anton zu dir gekommen ist, wusste er, dass er sich in dich verlieben würde, wenn alles gut ging.«
Swetlana schwieg. Ich glaubte zu sehen, dass ihre Wangen eine leichte Röte überzog, aber möglicherweise lag das am Fahrtwind in dem offenen Cabriolet.
»Und weiter?«
»Weißt du, was das bedeutet? Zur Liebe verurteilt zu sein?«
»Aber ist man das nicht immer?« Swetlana fuhr vor Empörung sogar hoch. »Wenn zwei Menschen einander lieben, wenn sie sich unter Tausenden, unter Millionen finden – das ist immer Schicksal!«
Und wieder spürte ich in ihr jene unendlich naive Frau, die eigentlich schon im
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