10 - Operation Rainbow
Und doch, dachte Tawny, saßen sie da wie auf dem Sprung und lauerten... auf was?
Wer hatte sie aus ihrem Schlupfloch hervorgeholt? Die Deutschen fanden keine Erklärung dafür. Ein Nachbar berichtete, daß wenige Wochen vor dem Vorfall der Wagen eines Besuchers vor der Tür gestanden hätte. Doch woher er gekommen war und zu welchem Zweck, wußte niemand. Die Kennzeichen des Fahrzeugs hatte sich keiner notiert, auch nicht die Marke, obwohl im Verhörprotokoll stand, daß es sich um einen deutschen Wagen handelte, von weißer oder wenigstens heller Farbe. Was dieser Hinweis taugte, vermochte Tawney nicht einzuschätzen. Es konnte auch ein Kunsthändler gewesen sein, ein Versicherungsagent... oder die Person, die sie aus ihrem Versteck und zurück in ihr linksradikales Terroristendasein gelockt hatte.
Daß die ihm vorliegenden Informationen keine befriedigende Schlußfolgerung zuließen, war nichts Neues für den erprobtem Abwehroffizier, der er war. Er bat seine Sekretärin, für eine Übersetzung der Fürchtnerschen Artikelserie zu sorgen und sie ihm und Dr. Bellow zur Analyse vorzulegen - mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Etwas hatte die deutschen Terroristen aus ihrem professionellen Winterschlaf aufgeschreckt, doch was, blieb ein Rätsel. Die Beamten des Bundeskriminalamts konnten zufällig über die Lösung stolpern, aber Tawney rechnete nicht damit. Fürchtner und Dortmund hatten es immerhin geschafft, sich ein ungestörtes Privatleben zu sichern, in einem Land, dessen Polizei ansonsten bei der Personenfahndung recht erfolgreich war. Jemand, der sie kannte und dem sie vertrauten, mußte sie überredet haben, wieder in Aktion zu treten. Wer immer es war, er wußte, wo er sie finden konnte - daraus folgte, daß es noch immer ein rudimentäres Terror-Netzwerk gab. Die Deutschen kamen zu demselben Schluß, und ihr vorläufiger Bericht empfahl, durch V-Leute oder bezahlte Informanten nähere Erkundigungen einzuziehen. Das konnte klappen oder auch nicht. Tawney hatte mehrere Jahre seines Lebens darauf verwendet, in die irischen Terrorgruppen einzudringen, und ein paar kleinere Erfolge erzielt. Weil sie so selten vorkamen, wurden sie damals hochgespielt. Doch seitdem hatte in der Welt des Terrorismus eine Art darwinscher Auslese stattgefunden. Die Dummen starben aus, und die Klügeren überlebten. Und nach fast dreißig Jahren ständiger Verfolgung durch immer raffiniertere Fahnder waren die verbliebenen Terroristen selbs t raffiniert geworden. Und die besten von ihnen waren in der Moskauer Zentrale von KGB-Offizieren ausgebildet worden... War das eine mögliche Spur? fragte sich Tawney. Die neue russische Führung verhielt sich kooperativer... aber was den Terrorismus betraf, nicht unbedingt. Vielleicht war es ihnen peinlich, daß sie sich früher mit solchen Leuten eingelassen hatten... Vielleicht waren auch die Akten vernichtet, wie die Russen immer wieder behaupteten, bloß mochte Tawney daran nicht glauben. Geheimdienstagenten warfen nie etwas weg. Die Sowjets hatten die umfassendste Bürokratie der Welt errichtet, und Bürokraten waren imfähig, Akten zu vernichten. In jedem Fall hätte die Kooperation mit russischen Behörden in dieser Sache seine Kompetenz weit überschritten. Doch konnte er einen entsprechenden Antrag formulieren, vielleicht auch durch ein oder zwei Instanzen bringen, bevor irgendein Staatsbeamter im Foreign Office ihn abschmetterte. Dann hatte er wenigstens was zu tun, und die Leute im Century House, das nur wenige Häuser von Westminster entfernt am Themseufer lag, würden merken, daß er noch immer im Dienst war und keine Ruhe gab.
Tawney steckte alle Unterlagen, einschließlich seiner Notizen, in eine dicke Ledermappe, bevor er sich an den aussichtslosen Antrag setzte. Er konnte nur den Schluß ziehen, daß es noch immer ein Terror-Netzwerk gab und daß jemand aktiv geworden war, der sich in dieser widerwärtigen Domäne auskannte. Wer weiß, ob die Deutschen mehr herausfanden und ob diese Ergebnisse auch auf seinen Schreibtisch gelangten. Wenn ja, fragte sich Tawney, konnten John Clark und Alistair Stanley dann zum Gegenschlag ausholen? Nein, hier handelte es sich um eine polizeitypische Aufgabe, egal in welcher Stadt oder Nation. Größeres Geschütz aufzufahren war nicht nötig. So schwer war es auch wieder nicht, einen dicken Fisch zu angeln. Das hatten zuletzt die Franzosen mit Carlos unter Beweis gestellt.
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Djitsch Ramirez Sanchez war kein glücklicher Mensch,
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