100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
stattzufinden.
„Dort ist das Haus von Herrn Egger“, sagte Julia mit erstickter Stimme. „Dort wohnen Rosa und ich, seit Onkel Pauls Tod.“
„Rosa!“ entfuhr es mir. „Rosa Abbot!“
„Sie glauben, daß die Haushälterin…“ begann Schwaber.
„Es wäre naheliegend“, stellte ich fest. „Sie wußte zu viel. Vermutlich hatten diese Leute auch erkannt, daß sie mit uns Verbindung aufnahm.“
Julia begann zu schluchzen und klammerte sich an Klara, die sie in die Arme nahm und beruhigend auf sie einredete.
„Nicht daß ich davon überzeugt bin“, meinte Schwaber. „Aber wenn die wirklich die Haushälterin umgebracht haben, dann haben sie einen großen Fehler gemacht. Sie müßten sich doch im klaren darüber sein, daß wir die Sache nicht auf sich beruhen lassen.“
„Es wäre möglich, daß sie mit uns ähnliche Pläne haben.“ Ich dachte plötzlich mit Unbehagen an die Schlüssel.
Es wurde fast Mitternacht, bis im Dorf die Lichter verlöschten und wir daran denken konnten, hinabzusteigen. Das Gebiet um das Bergen-Haus war fast dunkel, als wir dort ankamen. Wir bewegten uns sehr vorsichtig, da das letzte Wegstück über freie Wiesen führte.
Nichts regte sich, als wir die Hinterfront des Hauses erreichten. Schwaber war schweigsam. Ich fragte mich, was in ihm vorging. Julia hatte sich beruhigt. Aber es war zu erkennen, daß sie Angst hatte. Und ich war selbst auch besorgt. Wenn in Eggers Haus etwas geschehen war und Rosa Abbot den Tod gefunden hatte, dann konnte es nicht verborgen geblieben sein, daß das Mädchen fehlte. Das würde nicht nur für das Mädchen gefährlich sein.
Das Innere des Bergen-Hauses hatte ich mir von Julia so genau beschreiben lassen, daß wir uns auch allein im Dunkeln zurechtfinden würden. Es schien mir besser, wenn sie ins Dorf ging, um herauszufinden, was geschehen war. Kurt war wenig erbaut, daß er sie begleiten sollte. Aber er schien einzusehen, daß ich das Mädchen nicht Schwaber anvertrauen wollte. Außerdem würde es noch eine geraume Zeit dauern, bis wir in dem Haus fest genug Fuß gefaßt hatten, daß wir die Sitzung beginnen konnten. Bis dahin würden sie längst zurück sein.
Während die beiden in der Dunkelheit verschwanden, schlichen wir an der Hauswand entlang zur Haustür. Ich holte die Schlüssel hervor und hatte kein gutes Gefühl dabei. Ich kam mir sehr verwundbar vor.
Aber nichts geschah. Wer am Vortag seine Macht ausprobiert hatte, versuchte es nicht erneut. Mit leisem Klirren schloß ich auf, während Klara und Schwaber sich mit Kurts Geräten abschleppten.
Die Tür schwang lautlos auf. Wir standen im Stiegenhaus und schlossen sie aufatmend hinter uns. Die Stille war erdrückend.
„Rechts muß das Wohnzimmer sein“, erklärte ich, unwillkürlich flüsternd, obwohl das Haus leer sein mußte. „Schwaber, beobachten Sie aus einem der Fenster das Dorf und rufen Sie uns, wenn Sie etwas Ungewöhnliches sehen.“
„Wohin gehen Sie?“ fragte er unsicher.
„Wir sehen uns um“, erklärte ich. „Stellen Sie das Zeug hier irgendwo ab, aber so, daß man nicht darüber fällt.“
„Und kein Licht!“ warnte ich.
Wir warten, bis er im Wohnzimmer war.
„Es ist kalt“, flüsterte Klara.
„Fühlst du etwas?“ fragte ich.
„Nur Kälte und jenseits…“
„Ja?“
„Wir sind nicht allein hier?“
„Anna Bergen?“ Gespannt hielt ich den Atem an.
„Das weiß ich nicht, Hans. Es ist zu vage.“
Ich ließ ihr Zeit, obwohl ich vor Unruhe brannte. Nur wenn alle Unrast von ihr abfiel, vermochte sie tiefer in die Psyche des Hauses zu dringen. Psyche des Hauses pflege ich es zu nennen, obwohl es sich mehr um die Psyche des Verstorbenen handelt. Aber ich sehe ein starkes Wechselspiel zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Beides prägt einander mittels dieser Energie der Gefühle. So wie das Haus in der Erinnerung bleibt, bleibt auch vom Menschen etwas im Haus zurück, wenn er stirbt. Es gibt Augenblicke, in denen es lebendiger wird.
Aber das sind alles nur Spekulationen, mit denen ich spiele, seit mich der Gedanke an die Energie der Gefühle nicht mehr losläßt. Wirklich war das, was Klara auffing. Und während es geschah, blieb keine Zeit für Spekulationen.
Was blieb, war wie immer Erfahrung, aber kein Verstehen. Nur neue Spekulationen. Erfahrungen und Spekulationen die man nicht mitteilen konnte, die nicht ernsthaft genug akzeptiert wurden.
„Wohin?“ fragte Klara.
„Hier im Stiegenhaus fanden die Selbstmorde statt.
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