100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
auf einen Gedanken. Ich arbeitete an meinen Fesseln bis ich sicher war, daß ich die Hände nur herauszuziehen brauchte.
Undeutlich nahm ich wahr, daß irgend etwas begann. Ein Wimmern kam von oben. Als ich den Blick klar hatte, sah ich, daß sie die Käfige hochzogen. Ernst regte sich nicht, aber Julia klammerte sich verzweifelt an die Stäbe. Während Ernst an der Decke hing, ließen sie das Mädchen auf den Altar hinab. Dort hockte sie hinter den Gitterstäben im hellen Fackelschein vor aller Augen.
Neben dem Käfig saß ein Mann mit gekreuzten Beinen auf dem Altar. Er sah sehr schwach und zerbrechlich aus. Und sehr alt.
Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Klara sich in ihren Fesseln aufbäumte. Als ich mich ihr zu wandte, sah ich, daß eine merkliche Veränderung mit ihr vorging. Ihre Augen funkelten – und nicht nur vom Widerschein des Fackellichts. Ihr Mund war zusammengekniffen.
Haß war in ihrem Gesicht; ein Haß, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Ich erkannte, daß dies nicht Klara war. Anna ergriff wieder von ihr Besitz in diesem Augenblick, da ihr Kind in höchster Gefahr war.
Die Angst um Klara ernüchterte mich weitgehend. Ich fürchtete, daß sie sie töten würden, wenn sie es merkten. Aber als ob sie es selbst ahnte, beherrschte sie sich mit unmenschlicher Kraft.
Ihr Blick war nicht auf Julia gerichtet, sondern auf den Mann neben dem Käfig.
Eine Stimme ertönte, laut und widerhallend. Ich konnte den Mann nicht sehen. Er mußte irgendwo vor dem Altar stehen. Schlagartig erstarb das Murmeln der Menge. Der einzige Laut, nun deutlich hörbar, war das Weinen des Mädchens im Käfig.
„Wir sind hier!“ sagte der Mann. „Oh Herrscher über das Leben, die Seele und den Tod. Höre uns!“ Es klang beschwörend.
Ich dachte daran, was die Haushälterin und Anna Bergen gesagt hatten. Der Teufel war es, und Teufelswerk, was in Gehrdorf geschah. War es der Teufel, den sie hier anbeteten? Ich hielt Ausschau nach irgend etwas, das darauf hinweisen mochte. Die klassischen Symbole: ein verkehrtes Kreuz, schwarze Kerzen – nichts dergleichen. Außer dem Altar und diesen Käfigen – nichts. In ähnlichen Gewölben mochten sich Teufelsanbeter getroffen haben, um heimlich ihre Messe abzuhalten.
Die Stimme fuhr fort: „Gib uns das Leben dieses Opfers und nimm dafür seine Seele!“
Es war gespenstisch. Es mutete lächerlich an, wie aus einem billigen Film, aber die Ernsthaftigkeit, mit der diese Menschen das Spektakel inszenierten, ließ mich frösteln.
Die Stimme schwieg. Der alte Mann auf dem Altar richtete sich ein wenig auf, und Julia begann zu kreischen. Sie wand sich, als ob sie große Schmerzen litte. Aber niemand kam ihr nahe oder berührte sie. Der Alte ließ kein Auge von ihr. Es war deutlich zu sehen, daß etwas zwischen den beiden geschah. Aber was?
Ich zerrte an meinen Fesseln und versuchte fluchend mich aufzurichten. Julias Qualen waren mir unerträglich. Etwas, irgend etwas mußte geschehen. Und rasch! Aber was konnten wir tun? Dann dachte ich an Willie. Was war mit Willie? Hatte er beobachtet, was mit uns und der Bergen-Villa geschehen war? Ich war plötzlich wieder voll Hoffnung, und sie ließ mich erneut empor tauchen aus der Willenlosigkeit, in der die Droge mich immer tiefer stürzte.
Wo blieb Willie nur? Sie konnten ihn nicht gefangen haben, sonst wäre er wohl jetzt hier mit uns. Himmel, wenn nicht bald etwas geschah, kam für Julia jede Hilfe zu spät. Auch für uns.
Der Alte auf dem Altar drehte sich plötzlich um und blickte stur auf Klara. Verwundert sah ich Klara halb aufgerichtet, die gefesselten Hände zu Fäusten geballt, die Augen halb geschlossen und auf den Mann gerichtet. Nein, es war nicht Klara, es war noch immer Anna Bergen.
Keiner beachtete sie. Aller Augen schienen auf die noch immer schreiende Julia gerichtet. So entging ihnen dieses Zwischenspiel, und sie merkten zu spät, was geschah.
Der Alte drehte sich ruckartig herum zum Käfig und erhob sich. Er beugte sich über das Mädchen und machte sich an dem Seil zu schaffen, an dem der Käfig befestigt war.
Jetzt sah ich Egger in meiner Nähe verwundert hoch blicken.
„Was tut er nur?“ murmelte er.
Es war nicht deutlich zu sehen, was der Alte tat. Irgend etwas mit dem Seil. Aber plötzlich taumelte er zurück und stieß einen klagenden Schrei aus. Bevor jemand dazu kam, ihm zu Hilfe zu eilen, hielt er das Seilende hoch, das er zu einer Schlinge geknüpft hatte. Mit einem wimmernden Laut zog er sie
Weitere Kostenlose Bücher