100 - Die gelbe Villa der Selbstmoerder
eine teuflische Macht mochte es bewerkstelligt haben. War das das Geheimnis der Gehrdorfer?
Ich konnte mein Erschrecken beim Anblick des Mädchens nicht verbergen, denn ich erschrak zutiefst. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Klara ergriff sie und zog sie in die Arme.
„Etwas ist mir ihr geschehen im Käfig. Sie weiß nicht, was es war. Aber es hat sehr weh getan.“
Schluchzend sagte Julia: „So kalt wie Eis. Ich dachte, ich müßte sterben. Und der alte Mann, wie er mich ansah.“ Schluchzend barg sie den Kopf an Klaras Schulter. Heftig fügte sie hinzu: „Es hat mir nichts ausgemacht, daß er sich aufgehängt hat. Er war böse. Das waren sie alle. Ich konnte es an ihren Augen sehen.“
„Weißt du, warum er es getan hat?“ fragte ich das Mädchen.
„Ja“, sagte sie ohne Zögern. „Weil Mama da war.“
Ich sah wie Klara erbleichte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich schüttelte den Kopf.
„Weißt du das genau?“ fragte ich Julia.
„Ja, Herr Feller.“
„Aber du hast sie nicht gesehen?“
Sie schüttelte verneinend den Kopf.
„Woher willst du dann wissen, daß sie da war?“
„Weil der Mann sich erhängt hat“, erklärte sie.
„Und warum glaubst du, daß deine Mutter dafür verantwortlich ist?“
„Warum hätte er es sonst tun sollen? Er sollte mein Leben bekommen. Mama ließ es nicht zu.“ Es klang sehr bestimmt.
Sie hatte recht. Und wie recht! Beruhigend nahm ich ihre Hand und erschrak über ihre Kälte. „Und wir“, sagte ich, „werden auch auf dich aufpassen. Sicher wird Frau Abbot nichts dagegen haben, wenn du eine Weile bei uns bleibst. Willst du das?“
Sie starrte mich an. „Sie wissen es noch nicht“, sagte sie. „Rosa ist tot.“
„Tot?“ entfuhr es mir und Klara gleichzeitig.
„Ja“, erklärte Julia schluchzend. „Als dieses Gewitter war.“
„Wie?“ fragte ich.
„Sie nahmen ihr Leben.“
„Du meinst wie deines da unten im Keller?“
„Ja, Herr Feller.“
„Wahnsinn“, sagte ich impulsiv.
„Verstehst du es?“ fragte Willie.
„Längst nicht genug“, sagte ich kopfschüttelnd.
„Aber du glaubst es? Alles?“
Ich ballte die Fäuste. „Ich habe mir vorgenommen, in dieser Sache auf alles vorbereitet zu sein.“
„Das beantwortet meine Frage nicht.“
„Ich werde nichts bezweifeln, bis bewiesen ist, daß es nicht so ist.“
Er schüttelte den Kopf. „Darf ich zusammenfassen, was ich bis jetzt aus den Berichten aller Beteiligten entnehmen konnte?“
„Kann nicht schaden“, stimmte ich zu.
„Die Gehrdorfer scheinen alle an einem Kult beteiligt, bei dem eine Gottheit unbekannter Art angerufen wird, der man Menschenopfer bringt.“
Ich nickte zustimmend. Julia und Klara ebenso.
Er fuhr fort: „Diesem Gott wird die Seele angeboten, während das Leben selbst auf andere Menschen übertragen wird. Absurd genug!“
„Möglich“, unterbrach ich ihn. „Aber Julias Aussehen deutet darauf hin, daß zumindest auf irgendeine Weise Lebenskraft entzogen wird. Da wirst du mir beipflichten, oder?“
Er nickte zögernd. „Wenn ich sie nicht vorher gesehen hätte…“ Er brach ab. „Es ist teuflisch.“
„Dieser Ansicht waren auch Rosa Abbot und Anna Bergen“, erklärte ich. „Ihrer Meinung ist Gehrdorf mit dem Teufel im Bund.“
„Schwarze Messen und dergleichen?“
„Es sieht nicht so aus. Lassen wir den Teufel beiseite. Seine Macht geht mehr von den Menschen selbst aus. Aber an ihr ist nichts Übernatürliches. Nicht vergleichbar mit jener der Geister, der ruhelosen Toten.“
„Als ihr nach Gehrdorf kamt, wie war das Wetter?“
„Das Wetter?“ fragte er verblüfft.
„Ja“, erklärte ich ungeduldig. „War der Himmel klar? Oder gab es ein Gewitter?“
Er sah mich erstaunt an. „Gewitter? Das war kein Gewitter. Das war der Weltuntergang!“
Das paßte. Wenn jemand in diesem Tal gewaltsam starb, gab es diese Gewitter. So war es den Berichten nach auch bei Anna Bergens Tod gewesen. Ebenso bei Paul Fehrers Tod.
„Gehrdorf ist übrigens verschrien für seine Gewitter“, fuhr Willie fort. „Dieser Schwaber sprach davon. Ein komischer Kauz. Als wir euch fanden, erzählte er ständig etwas von Toten, die noch leben, aber keiner wurde recht klug aus seinen Worten. Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, die handgreiflichen Gehrdorfer zu beruhigen. Aber ich erinnere mich jetzt, daß er von einem Mann namens Steinseifer redete, der im letzten Jahr gestorben war, und den er gesehen hatte. Das schien ihn
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