100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
Gesicht, reichte mir einen leicht braun schimmernden Käselaib herüber. Würzig und kräftig duftete der »Fromage«, ein ganz klein wenig aggressiv und doch harmonisch. »Camembert in Calvados« meinte Olivier. »Und das hier, das ist der Camembert, den wir in der Normandie machen.« Er legte mir ein weiches, saftiges Stück Käse auf die Hand, mit leicht milchigem Duft und einem undefinierbaren Aroma der Wiesen und Weiden Nordfrankreichs. Olivier, das ist der »Affineur« im normannischen Küstenstädtchen Boulogne-sur-Mer. Ein »Käsereifer«, der den Rohkäsen vom Bauernhof die erforderliche Pflege zukommen lässt, sie bei optimaler Temperatur lagert und gegebenenfalls mit Calvados oder Trester wäscht. Und weil Olivier die sensible Kunst des Reifens besser als die meisten anderen versteht, ist er einer der Käsepäpste der Grande Nation. Einer, der die besten Restaurants beliefert und die ausgefallensten Käse vom Saint-Winoc über den Crayeux de Roncq bis zum Crémet du cap Blanc-Nez im Keller hat. Sein Großvater eröffnete 1907 eine Fromagerie in Rouen, 1996 wurde ihm der Titel »meilleur ouvrier de France« (bester Handwerker Frankreichs) verliehen. Irgendwann hat er auch die Zeit gefunden, ein Standardwerk zum Thema »Käse des Nordens« zu schreiben: ein Leben für den Fromage. Exzellenter Camembert, das ist für den Mann aus der Normandie Alltag. Wer jedoch aus dem fernen Allemagne anreist, der schmeckt den Käse vielleicht zum ersten Mal so, wie er sein sollte.
Denn Camembert darf sich fast jeder Käse nennen: Ein kreideweißes Stück Kautschuk ohne Geruch und Geschmack, wochenlang haltbar und nur unter größten Anstrengungen an den Rand des Verderbens zu bringen – so zeigt sich der typische Supermarkt-Camembert von seiner besten Seite. Solche Käse haben mit dem Original in etwa so viel gemeinsam wie ein Hamburger mit einem Filetsteak, wie ein Fischstäbchen mit einer fangfrischen Seezunge.
»Echter Camembert kommt heute genauso wie vor zweihundert Jahren aus der Normandie, wird aus rund zwei Litern frischer Milch glücklicher Kühe hergestellt, nach alter Art mit dem Schöpflöffel in die Form gegossen, mit trockenem Salz behutsam aromatisiert«, erklärte mir Olivier. Während seines Reifemonats wacht ein strenger »Maître-fromager« (Käsemeister) täglich über sein Wohlergehen. Mit mindestens 45 Prozent Fettgehalt und 300 Kalorien auf 100 Gramm ist er zwar kein ausgesprochenes Fliegengewicht, gilt aber zusammen mit dem Brie und dem Coulommiers noch als eher »leichter« Käse.
Möchtegern-Camembert hingegen wird aus pasteurisierter Milch hergestellt, was den leidigen Nebeneffekt hat, dass beim Pasteurisieren genau die Bakterien, die den Käse reifen lassen und letztlich seinen Geschmack entwickeln, abgetötet werden. Nachrichtenmann Ulrich Wickert, ein Mitglied der französischen »Käsebruderschaft« Compagnons de Saint-Uguzon, hat das mal so ausgedrückt: »Ein deutscher Käse entspricht einem Putzmittel: Der steht da, riecht sauber, sieht auch so aus und läuft nicht fort … Ein französischer Käse ist ein Lebewesen. Von einem Handwerker wird er – so er besondere Qualitäten erhalten soll – nach alten Rezepten aus roher Milch geformt, und seine Güte erhält er erst durch einen ständigen Reifungsprozess …«
Die Wissenschaft hat Wickert recht gegeben. So veröffentlichte Sophie Nicklaus vom französischen Agrarforschungsinstitut in Dijon Studien zum Reifezustand von Camembert im »Journal of Agricultural Food Chemistry«. Enzyme aus der Schimmelschicht tragen demnach maßgeblich zum Entstehen der delikaten Bitterstoffe bei. Eiweißverbindungen zerlegen bei der Alterung Proteine und Fett, der Käse wird zähflüssig. Im Laufe des Reifeprozesses verändert sich die Struktur des Käses, die Bitterstoffe werden freigesetzt. Mit Ausnahme der Tatsache, dass die meisten Aromastoffe des Käses wasserlösliche Moleküle sind, hätte Käsemeister Olivier das auch gewusst: »Gut gereift muss er sein!«
Der Legende nach soll Marie Harel, Bäuerin im Dorf Camembert bei Vimoutiers, den Käse 1791 erfunden haben. Kein Wunder, schließlich stammte Madame ursprünglich aus dem Örtchen Brie, und dort stellte man schon seit dem siebten Jahrhundert den gleichnamigen, wohlschmeckenden Weichkäse her. Das Rezept hinterließ sie ihrer Tochter und deren Mann Victor Paynel. Jahrzehntelang fristete der heute weltbekannte Normanne ein schlichtes Schicksal als lokale Abart des Brie. Zur Einweihung der
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