100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
Eisenbahnlinie Paris – Granville wurde er immerhin von Napoleon III. gekostet, der angeblich überglücklich über diesen Genuss der Serviererin um den Hals fiel und sie küsste. Wir gehen davon aus, dass der Camembert nicht nur ein Vorwand war.
Der eigentliche Siegeszug des berühmtesten Käses der Grande Nation begann erst, als ihn 1890 ein gewisser Monsieur Ridel in eine runde Holzkiste packte. Der Camembert, der früher auf einem Strohbett allenfalls bis nach Paris befördert wurde, war jetzt »reisefertig«, gehörte ins Marschgepäck von Bauern, Künstlern oder auch Soldaten – und kam ganz nebenbei zu seiner gegenwärtigen Form: Rund, 250 Gramm schwer, mit elf Zentimeter Durchmesser und drei Zentimeter Höhe. Bald schon wurde er auch außerhalb seiner normannischen Heimat fabriziert. Ausgerechnet ein amerikanischer Unternehmer pilgerte in den 1920er-Jahren nach Vimoutiers, um auf dem Grab von Käse-Erfinderin Harel einen Kranz niederzulegen. Aber niemand in der Region wusste, wo Madame zur letzten Ruhe gebettet war. Zurück in der Heimat hielt der Herr unter seinen Mitarbeitern in der Käserei eine Kollekte ab: 2800 Dollar kamen zusammen, genug, um beim Bildhauer Eugène L’Hoëst eine Skulptur in Auftrag zu geben. 1928 wurde das Käsedenkmal mit einer rustikal-energisch dreinblickenden Marie eingeweiht, »zum Ruhme der normannischen Bäuerinnen« und als Geschenk von »400 Männern und Frauen, die in Van Wert, Ohio, Käse fabrizieren«.
Obwohl die Käsehersteller von Borden später das im Zweiten Weltkrieg übel beschädigte Monument ersetzten, geriet Madame Harel schnell in Vergessenheit. Als die französischen Käsereien schließlich die Namensrechte am Camembert schützen lassen wollten, war es zu spät. Marie Harels delikate Erfindung wurde inzwischen in der halben Welt hergestellt. Die Franzosen wehrten sich mit einer Appellation d’Origine Contrôlée, der vom Wein bekannten kontrollierten Erzeugerabfüllung. Das Original heißt jetzt »AOC Camembert de Normandie«, und die besten Käse kommen nach wie vor aus der Umgebung von Camembert, dem Pays d’Auge. Der einzige Erzeuger echten Camemberts aus Camembert ist ein junger Mann mit Brille namens François Durand. Man trifft ihn auf den Märkten in Vimoutiers, Livarot oder Gacé.
Industrielle Fabrikanten ignorieren gern die Tradition und versuchen mit aller Kraft, Camemberts aus pasteurisierter Milch auf dem Markt durchzusetzen: Während der sogenannten »Camembert-Kriege« kämpfte der französische Gastronomiekritiker Périco Legasse gegen Lactalis, Europas größten Produzent von Käse mit 32000 Mitarbeitern, 8,5 Milliarden Euro Jahresumsatz und 125 Standorten weltweit. Der wollte seine Produktion umstellen und statt Rohmilch jetzt mikrogefilterte, pasteurisierte Milch verwenden. Kurz und schlecht: Aus gutem alten Camembert sollte ein industrielles Kreidestück werden, natürlich versehen mit dem begehrten AOC-Siegel. Rund 80 Prozent des gallischen Camembert waren in Gefahr! Nach über hundert Jahren sollte Camembert aus Rohmilch plötzlich eine Gefahr für die Gesundheit darstellen.
Legasse entlarvte, wie dem Verbraucher Industriekäse als Traditionsware untergejubelt wurde und wie Lobbyisten das einst gerühmte Camembert-Regelwerk verwässert hatten. Und das Wunder geschah: Nach einem Film mit dem Titel »Der Käse wird ermordet«, ausgestrahlt 2007 auf »France 3«, boykottierten die Franzosen den Kautschuk-Camembert. Sogar eine Fabrik musste schließen.
Doch wie oft in solchen Fällen war der Sieg von kurzer Dauer. Viele Käsefreunde ließen sich von der Lactalis-Werbung einlullen: glückliche Kühe, Großvater mit Hut, Landschaftsfotos aus der Zeit, als die Welt des Camemberts noch heil war. Das reicht, um Menschen begierig zu gummiartigem Fabrikkäse greifen zu lassen. Solche »Fromages« sind alles – außer Camembert.
»Guter Camembert hat eine samtig weiße Rinde und schimmert in den Falten rostrot. Hüten sollte man sich vor zu weißen oder stark geröteten Exemplaren«, erklärt Käsemeister Olivier »Er riecht frisch, vielleicht ein wenig nach Pilzen, niemals aber nach Ammoniak. Falls doch, sticht er nicht nur in der Nase, sondern schmeckt wie ein Stück Seife oder prickelt unangenehm auf der Zunge. Weich sollte er sich anfassen, aber beim Anschneiden trotzdem nicht auseinanderlaufen.« Quillt der Camembert nämlich nach dem Schnitt halbflüssig unter der Kruste hervor, wurde er während des Reifeprozesses nicht korrekt
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