100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
(Ich möchte an dieser Stelle empfindliche Leser ausdrücklich dazu einladen, das Kapitel zu wechseln und vielleicht zu Steinpilzen oder Morcheln zu springen, die, soweit bekannt, keinen Schmerz empfinden . )
Die weitaus meisten Menschen haben mit dem Töten von Tieren kein Problem. Sie essen sie täglich, als Burger, Steaks, Koteletts. Nur achten wir gerade in Deutschland darauf, dass uns im fertigen »Produkt« – allein schon dieses Wort! – nichts an tote Tiere erinnert. Der Kalbskopf mit Petersilie in den Ohren, den man in Südeuropa noch in Metzgerauslagen findet – bei uns ist der inzwischen längst undenkbar.
Das Hummer-Dilemma entsteht, weil Küchenchef oder Hobbykoch – also im Zweifel wir selbst – das Tier im eigenen Zuhause töten müssen und diese Aufgabe nicht delegieren können. Da werden auch viele Menschen, die den Tag mit zwei Wurstbroten beginnen, vom Gewissen gebeutelt. Grob eingeteilt gibt es zwei »Schulen« des Hummergarens: Kochtopf oder Messer. Einige Köche werfen ihn in kaltes Wasser und bringen es langsam zum Kochen. Frösche sollen diese Temperaturzunahme nicht spüren. Aber Frösche sind Amphibien, keine Krustentiere. Andere werfen ihn drei Minuten in kochendes Wasser, ein Vorgang, der in manchen Küchenkreisen »kardinalisieren« genannt wird. Andere rammen ihm ein Messer zwischen die Augen oder trennen ihn der Länge nach auf. Der amerikanische Autor David Foster Wallace hat in seinem brillanten Text »consider the lobster« starke Zweifel angemeldet, ob dieser Messerschlag den Krustentieren wirklich Schmerzen erspart: Das Nervensystem eines Hummers ähnelt dem unseren überhaupt nicht. Grob gesagt sind rund um den Hummerleib Ganglien, Nervenknoten, verteilt, die Schmerz mitteilen können. Durch den Schnitt wird nur der vordere Knoten eliminiert.
Rund um das schlechte Gewissen entstehen ganze Geschäftszweige. So bot die Rewe-Gruppe 2010 das neue Produkt »High Pressure Lobster« an. Der »Hochdruck-Hummer« sei eine »Ani mal welfare Initiative«, die mit »artgerechter Tötung« und, natürlich, »neuen kreativen Möglichkeit« wirbt. Ein High Pressure Lobster von Rewe wird sozusagen durch Überdruck aus dem Krustenkleid gezwungen. Ob dies eine »artgerechte Tötung« ist, können die betroffenen Tiere nicht mitteilen. Die Spezies Mensch jedenfalls braucht so nicht im eigenen Heim bei der Tötung Hand anzulegen.
Eine Unsitte ist für mich auch das Halten von Hummern in Vivarien im Restaurant: Kann sich jemand vorstellen, dass der Oberkellner mit einem Käfig voller lebender Häschen und Kaninchen durch den Saal streift und die Esser fragt, welches sie denn jetzt gerne serviert hätten?
Werden die Tiere in diesen kleinen Aquarien nicht richtig ernährt, magern sie unter ihrem Panzer deutlich ab. Schlechtes oder zu salziges Wasser stresst sie. Wie lange die Krustentiere schon im Aquarium ruhen, kann man ihnen oft ansehen: Europäische Hummer sind Kannibalen und knabbern mit Vorliebe die Antennen ihrer Artgenossen an. Letztere waren beim Fang so lang wie der Leib. Sind die Antennen bis auf einen Zentimeter »weggefressen« wartet der Hummer schon sehr lange im Restaurant auf Kundschaft und hat definitiv gelitten – auch im Geschmack.
Jakobsmuschel
Meine frühere Austernphobie hat sich auch auf andere Muschelarten übertragen, und im Fall der Jakobsmuschel hab ich sie noch immer nicht überwunden. Mein kochender Mann hält mir regelmäßig vor, was mir da für ein Genuss entgeht. Wahrscheinlich hege ich dem orangeroten Corail gegenüber Misstrauen, obwohl gerade das ein besonderer Leckerbissen sein soll?
Bis ich so weit bin, erfreue ich mich an den Legenden und wahren Geschichten, die mit dieser Muschel zusammenhängen. Dass sie das Erkennungszeichen der Pilger auf dem Jakobsweg war und voller Stolz am Hut getragen wurde, dass die Pilger mit ihnen Wasser geschöpft und sie als Trinkgefäße benutzt haben und dass jeder, der nach Bewältigung dieser Pilgerreise nach Santiago de Compostela mit einer solche Muschel zurückkam, großes Ansehen in seiner Gemeinde genoss – wie es ja auch Hape Kerkeling nach Erscheinen seines Buches »Ich bin dann mal weg« ging.
Aber ich weiß, zu lange darf ich nicht mehr zögern, mich der Jakobsmuschel kulinarisch wenigstens einmal im Leben zu nähern – bevor ihr Ölfirmen endgültig den Lebensraum durch Meeresverschmutzung entziehen.
Die Ölfirmen berufen sich ja auch gern auf die Jakobsmuschel. Denken wir doch statt an Hape Kerkeling
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