100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
legendäre Wiener Schnitzel gelingen. Klingt banal? Dann essen Sie mal das Original in Wien und versuchen, am heimischen Herd die Panade so hinzukriegen, dass sie das Schnitzel fast wie ein knuspriges Soufflé umgibt! Zuerst wird das dünne Schnitzel (4 mm reichen) im Schmetterlingsschnitt aufgefaltet, geklopft, gesalzen, in Mehl, verrührtem Ei und frisch geriebenen Semmelbröseln gewendet. Achtung: Brösel bitte nicht andrücken. Jetzt das Schnitzel in der Pfanne mit viel Schmalz bei 160–170° goldgelb backen. Nun kommt es auf den richtigen Handgriff an: Nur wer das Schnitzel mehrfach richtig schwenkt, vermeidet, dass die Panade förmlich am Fleisch klebt. Schließlich soll sie es locker umhüllen.
So kennen wir Kalb. Doch nicht jeder kennt Bries. Ob es schon immer etwas Besonderes war?
»Immer« ist ja bekanntlich eine lange Zeit: Urbain Dubois und Emile Bernard stellen in »La Cuisine classique« von 1856 gleich mehrere optisch anspruchsvolle Rezepte mit Kalbsbries vor. Beide waren typische Hofköche: Urbain Dubois lernte bei den Rothschilds und arbeitete bei Prinz Orlov in Russland, bevor er in die Dienste Kaiser Wilhelms I. von Preußen tritt. Dort traf er auf seinen Co-Autor Emile Bernard, ehemals Koch Napoleons III. »La Cuisine classique« ist seiner Hoheit von Preußen gewidmet. Kaiser Wilhelm war sich anscheinend nicht zu fein, Kalbsohren, wenn auch mit Trüffeln, oder Kalbskopf in Madeirasauce zu verspeisen. Kalbsbries, die Thymusdrüse des Kalbs, dient der Immunabwehr und bildet sich beim ausgewachsenen Tier zurück. Es ist von vergleichsweise weicher Konsistenz und verfügt über ganz zartes Kalbfleischaroma. Die Hofköche spickten es mit Speck und Trüffeln »à la Montpensier«, servierten es »à la napolitaine« mit Macaroni, Hühnerbrüsten und Pilzen oder tischten es »à la Périgueux«, getrüffelt mit Trüffelsauce auf.
Warum nur mögen die Menschen heute diese Leckerei nicht mehr? Genauso wenig wie Lammbries, Kalbszunge oder Kalbskopf, Letzterer war immerhin Lieblingsgericht des französischen Präsidenten Jacques Chirac. Vielleicht liegt es daran, dass die Zubereitung von Kalbsbries aufwendiger ist als die von Schnitzeln? Es wird gewässert, abgebrüht, gesäubert, von Haut, Blut und Knorpeln befreit und muss dann, beschwert durch ein Küchenbrett, erst einmal auskühlen. Dann geht es zum Braten, Backen, Grillen, Dünsten, Schmoren … Besonders der Kampf mit der feinen Membran wirkt auf Anfänger so, als müssten sie Hirn aus einem eng anliegenden Nylonstrumpf befreien. Es stimmt – für Kalbsbries braucht man ein wenig Zeit, es ist definitiv schwieriger zuzubereiten, als ein gebratenes Rinderfilet.
Nun muss ja nicht jeder am Herd ein Kalbsbriesprofi werden, aber auch im Restaurant bestellen nur noch wenige Menschen Innereien. Das ist schade, denn Köche, die Innereien servieren, trauen sich etwas zu und geben sich dabei oft besondere Mühe. Vielleicht liegt das Zögern auch an der Frage, »was das früher wohl war«? Es soll ja Menschen geben, die essen keine Nierchen, weil das Organ etwas mit tierischer Körperausscheidung zu tun hatte. Andererseits mögen viele auch weder Hirn noch Lunge. Vielleicht liegt die Abneigung an der ungewohnten Konsistenz mancher Innereien? Ungewohnt ist sie freilich nur, wenn man sein Leben lang nur Schnitzel und Filets verzehrt hat. Zumal die Leute allerlei Geleezeug der Süßwarenindustrie essen, wenn es nur hinreichend bunt schimmert – woraus das besteht, soll man lieber gar nicht wissen wollen … Ich vermute mal, die Innereien-Abstinenz kommt vom generellen Unwillen der Menschen, sich mit dem ganzen Tier zu konfrontieren, verbunden mit einer durch die visuelle Anmutung des rohen Stücks verursachten Abwehrhaltung. Unsere Zeit ist optisch orientiert, Fleisch, das Schönheitsidealen nicht entspricht, wird sofort ausgesondert. So ist es ein leichtes, dem Verbraucher, diesem alten »Augentier«, immer wieder optisch perfekte Waren mit minderwertigem Aroma anzudrehen. Denn Geschmack sieht man nicht. Dabei schmecken Innereien – richtig zubereitet – wirklich hervorragend. Wer einmal Kalbsbries auf allerhöchstem Niveau probieren möchte, dem empfehle ich einen Besuch im Pariser Lokal »L’Ambroisie«. Bernard Pacaud, der Herr am Herd, lässt das Bries (ris de veau) »à la financière« mit Morcheln in Morchelcreme und Macaroni servieren. Wer dann immer noch nicht zum Innereien-Essen bekehrt ist, dem kann nur die Zeitreise helfen: Der Schweizer
Weitere Kostenlose Bücher