100 Prozent Anders
fremden Menschen, mag keinen Körperkontakt. Ich kann schlecht ertragen, wie es im Bus oder in der U-Bahn riecht. Grundsätzlich mag ich den Duft von Menschen, die mir am Herzen liegen. Aber wenn sich die Gerüche von fremden Menschen auf engem Raum vermischen, dreht sich mir der Magen um. Wenn der Fahrer dann noch bremsen muss und so ein schwitzender Mensch auf mich drauf fällt, halte ich die Luft an.
Das war auch der Grund, weswegen ich als Schüler an keiner Klassenfahrt teilgenommen habe. Nicht mal bei der Abi-Fahrt war ich dabei. Höchstens mal bei einem Tagesausflug. Ich habe auch noch nie in meinem Leben in einer Jugendherberge geschlafen.
Bis heute bin ich nur ein einziges Mal U-Bahn gefahren. Das war mit Claudia vor 15 Jahren in London. Nach der Landung wollten wir uns in ein Taxi setzen, doch es herrschte totales Verkehrschaos, und wir hätten mindestens zwei, drei Stunden bis in die Innenstadt benötigt. Für Claudia gab es überhaupt keine Diskussion. Sie sagte: „Ich setze mich doch nicht stundenlang in eine Taxe. Wir fahren jetzt mit der U-Bahn. Punkt.“ Wir also mit unseren Koffern rein in die Underground – und ich hätte mich sofort übergeben können in dem schmutzigen, mit Menschen vollgestopften Waggon. Es war absolut nicht meine Welt! Ich nölte während der kompletten Fahrt bis in die City herum und gab Claudia ganz deutlich zu verstehen, dass ich das nie mehr machen würde, selbst ihr zuliebe nicht.
Auch bei meiner Kleidung ließ ich schon als Junge nicht mit mir verhandeln. Mitte der Siebzigerjahre war bei meinen Freunden und mir die C&A-Jeansmarke „Palomino“ total angesagt. Ich wollte gar keine anderen Hosen mehr tragen und kaufte mir ständig Palomino-Jeans in allen erdenklichen Farben. War meine Mutter der Meinung, ich hätte genug anzuziehen und eine neue Hose sei jetzt nicht nötig, kaufte ich mir die Hose eben von meinem eigenen Geld.
Wenn wir auf dem Kurfürstlichen Balduin-Gymnasium eine Freistunde hatten, hingen meine Klassenkameraden am liebsten im Freizeitraum der Schule ab. Dort lümmelten sie auf Matratzen herum und tranken für 20 Pfennige pro Plastikbecher aufgebrühten Pfefferminztee oder lauwarmen Filterkaffee. Mir war das alles nicht fein genug. Ich bevorzugte ein gepflegtes und ruhiges Ambiente. Also ging ich in das beste Café der Stadt und bestellte mir heiße Schokolade mit handgerührter Schlagsahne für 2,80 Mark. Mein Vater konnte das überhaupt nicht verstehen, wenn ich abends am Essenstisch von meinen Erlebnissen erzählte. Sein Spruch lautete stets: „Junge, Junge, wenn du später auch auf so großem Fuß leben willst, dann musst du mal richtig viel Geld verdienen.“
Als ich 13 Jahre alt war, schlug unser Französischlehrer vor, dass wir uns Brieffreunde an unserer Partnerschule in Nevers in Lothringen suchen sollten. Ich fand die Idee prima. Man wurde dadurch nicht dümmer und konnte auf angenehme Art sein Französisch verbessern. Also meldete ich mich freiwillig. Es gab nur 15 Schüler, die mitmachen durften. Als die Adressen der Brieffreundschaften verteilt wurden, war ich der einzige Junge, der ein Mädchen abbekam. Erst dachte ich, mein Lehrer hätte sich verlesen. Hatte er aber nicht. Es war definitiv ein Mädchen. Sie hieß Clothilde und war zwölf Jahre alt. Clothilde hatte sich wohl auch schon gewundert, weshalb ich mich für sie beworben hatte. Meine Mutter meinte nur: „Was ist denn daran so schlimm? Mit dem Mädchen kannst du dir doch auch Briefe schreiben.“ Was ich dann auch tat. Im Jahr darauf plante unsere Schule einen Besuch in Nevers. Ausgemacht war, dass wir acht Tage lang in der Familie unserer Brieffreunde wohnen sollten. Zwei Monate vor der Abfahrt bekam ich einen Brief von Clothilde. Es täte ihr ganz schrecklich leid, aber ihr Vater sei beim Militär und werde versetzt. Deshalb würden sie aus Nevers fortziehen.
Nun war ich also wieder mal der Einzige aus meinem Französischkurs, der plötzlich ohne Gastfamilie dastand. Kurzfristig wurde mir Marc, 13, zugeteilt. Ich schrieb ihm also einen Brief, um mich ihm vorzustellen. Schnell merkte ich, dass Marc und ich komplett verschieden waren – in etwa so, wie es viele Jahre später bei Dieter Bohlen und mir der Fall sein sollte. Marc spielte Fußball, war bei den Pfadfindern und liebte es, im Dreck zu wühlen und ordentlich einen draufzumachen. Er und ich passten überhaupt nicht zusammen.
***
Die Familie von Marc war okay. Sie lebten in einer kleinen Wohnung, und ich hatte ein
Weitere Kostenlose Bücher