100 Prozent Anders
Nachmittag fuhr ich mit dem Zug nach Hause, und meine Mutter holte mich am Bahnhof ab.
In der Oberstufe gab es keine Klassen mehr, sondern jeder Schüler belegte Kurse, drei Hauptfächer und verschiedene Nebenfächer. In den ersten Wochen hatte ich erst einmal genug damit zu tun, mich an der neuen Schule zurechtzufinden. Das neue Kurssystem, die komplett neuen Lehrer. Eine Woche nach Schulbeginn hingen am Schwarzen Brett auf dem Schulhof die Listen für unsere Sportkurse aus. Alle Schüler hatten bei der Anmeldung an der Schule ihre Lieblingssportarten angeben müssen und wurden nun in die jeweiligen Sportkurse eingeteilt.
Doch wo stand mein Name? Okay, wir waren insgesamt über 110 Schüler in der 11. Jahrgangsstufe, da kann man sich schon mal verlesen. Aber auch beim dritten und vierten Durchsehen war kein Bernd Weidung auf der Liste zu entdecken. Was war passiert? Ich ahnte es. Weil ich mich erst sehr spät, im Grunde schon nach Ablauf der Frist, auf dem Eichendorff-Gymnasium angemeldet hatte, legte man mir keine Sportwunschliste vor. Klassischer Fall von „durchs System gerutscht“! Ich dachte mir: Tja, wenn ich nicht auf der Liste stehe, muss ich ja auch nicht zum Sportunterricht. Logisch, oder?
Für mich begann das Wochenende also schon zwei Stunden früher als für den Rest meiner Klasse. Entweder ging ich in mein Lieblingscafé oder zum Einkaufen. Natürlich wusste ich, tief drin in meinem Herzen, dass es nicht richtig war, was ich tat. Aber da es keinem aufzufallen schien, dass ich beim Sportunterricht nicht dabei war, konnte es so schlimm ja nicht sein. Dachte ich. Denn einige Wochen später hatte mich ein Klassenkamerad beim Lehrer verpfiffen. Nach den Herbstferien musste ich bei unserem Sportlehrer, Herrn Harder, antanzen, der mir die Leviten lesen wollte. Nun gut, ich hatte einen Fehler gemacht, aber ich erklärte ihm, dass sein System ja auch Lücken aufweise, sonst hätte er mich spätestens beim Schülerabgleich zu Schuljahresbeginn namentlich erfassen müssen.
Mensch, ich und meine große Klappe! Einfach „Entschuldigung“ zu sagen, das hätte ja auch gereicht. Und nicht noch mehr Öl in die Flamme gießen. Doch es war bereits zu spät. Herr Harder hatte schon eine leicht rötliche Gesichtsfarbe. „Herr Weidung“, kam es gepresst aus Herrn Harders Mund, „ab kommenden Freitag spielen Sie Fußball.“ Fußball? Fußball?? Ich wurde blass um die Nasenspitze und schrie innerlich: „AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!“
Oh Mann, war das Zufall, oder sollte er tatsächlich so viel Menschenkenntnis besitzen, dass er wusste, wie man mich an meiner empfindlichsten Stelle treffen konnte?
Der Freitag nahte, und meine Laune sank auf den Gefrierpunkt. Ich stand auf dem Fußballplatz und sollte dribbeln, Pässe spielen, Dehnübungen und Sprint-Stopps machen. Hallo, ging’s noch? Ich war Sänger. Ich war schon fast 200 Mal auf der Bühne gestanden, sang das Repertoire der weltgrößten Künstler nach und hier, auf diesem piefigen Sportplatz, sollte ich Fußball spielen? Meine Entscheidung stand fest, und zu mir selbst sagte ich: „Sorry, Herr Harder, auch auf die Gefahr hin, dass ihr Blutdruck durch die Decke schießt: Heute habe ich meine letzte Vorstellung auf diesem Fußballplatz gegeben.“
Das Argument, das ich mir bei möglicher Kritik von Lehrerseite an meinem Verhalten in Gedanken schon zurechtgelegt hatte, lief darauf hinaus, dass jeder außer mir die Chance gehabt hatte, seinen Sportkurs frei zu wählen. Nur mir war Fußball aufgezwungen worden. Das konnte nicht sein. Argumentativ fühlte ich mich völlig auf der sicheren Seite. Deshalb hatte ich auch kein schlechtes Gewissen – doch dazu später mehr.
Meine Eltern besaßen elf Jahre lang ein kleines Ausflugscafé im Ort vor der Burg Eltz. Ich liebe diese romantische, märchenhafte Burg bis heute. Immer in der Woche vor Ostern fand die große Eröffnung unseres „Café Weidung“ statt. So oft es ging, habe ich meiner Mutter dort geholfen. Am tollsten fand ich es immer, wenn der Laden proppenvoll war und richtig viel Hektik herrschte. Unser Café befand sich an der Durchgangsstraße zur Burg Eltz. Auf dem Weg nach oben hielten die Busfahrer bei uns an und reservierten für zwei Stunden später schon einmal Tische für ihre Reisegruppen. Das waren dann gerne um die 50 Personen auf einen Schlag, die innerhalb von fünf Minuten ihr Kännchen Kaffee und ihr Stück Schwarzwälder Kirschtorte serviert bekommen wollten. Ich habe dann serviert,
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