100 Prozent Anders
eigenes Zimmer für mich. Da wir Deutschen nicht mit zur Schule mussten, sondern bis nach dem Mittagessen Zeit mit unserer Familie verbringen sollten, blieb ich morgens bewusst lange im Bett liegen, um den anderen die Chance zu geben, sich in Ruhe in dem kleinen Badezimmer fertig zu machen. Ich stand nie vor neun, halb zehn Uhr auf. Um zehn Uhr kam Marcs Mutter und machte für mich alleine Frühstück, da der Rest der Familie längst unterwegs war. Sie setzte sich zu mir, und wir unterhielten uns ganz wunderbar miteinander. Danach ging sie zur Arbeit. Mittags kam sie zurück und machte Mittagessen. Am letzten Tag erzählt sie mir, dass mein Aufenthalt eigentlich ganz anders geplant gewesen sei. Da sie berufstätig war und schon um sieben Uhr bei der Arbeit sein musste, hatte sie gedacht, dass ich zusammen mit Marc aufstehen und zur Schule gehen würde und wir uns dann mittags zum Essen wieder träfen. Da ich aber so lange schlief, hatte die arme Frau wahnsinnigen Stress und rannte ständig zwischen ihrem Arbeitsplatz und mir hin und her. Mir war das schrecklich peinlich, zumal ich ja gedacht hatte, ich würde der Familie einen Gefallen tun, wenn ich lange schlafen würde. Als ich sie fragte, warum sie mir das nicht gleich gesagt habe, antwortete sie: „Als ich dich sah, war mir sofort klar, dass ich anders mit dir umgehen muss.“
Das Beste an der Reise nach Nevers war der Gebetsstuhl, den ich mit nach Hause schleppte. Marc war bei den Pfadfindern. Sie trafen sich einmal pro Woche in der örtlichen Kirche. Ich begleitete ihn und sah mir die Kirche an. Plötzlich entdeckte ich unter der Treppe eine kleine, alte Gebetsbank. Sie war total verdreckt und voller Spinnweben. Doch sie faszinierte mich. Die Sitzfläche war aus Nussbaumholz geschnitzt, darin Rosenranken und ein Kreuz. Die Füßchen sahen aus wie gedrechselte Säulen. Die Fläche, auf der man kniete, und die Stütze für die Hände waren mit rotem Gobelinstoff bezogen. Ich war wie besessen von dem alten Stück und wollte es unbedingt haben. Der Leiter von Marcs Pfadfindergruppe meinte, das ginge nicht. Aber ich könne, wenn ich wolle, ein kleines Gebetsbüchlein oder ein Bild der Kirche als Andenken mit nach Hause nehmen. Ich wollte aber kein olles Büchlein, ich wollte den Gebetsstuhl. Ich bot ihm Geld. Wir einigten uns auf 20 Mark, dann gehörte der Stuhl mir. Stolz wie Oskar kam ich mit dem guten Stück zurück zu meiner Gastfamilie. Marcs Mutter war schier aus dem Häuschen und wollte mir den Gebetsstuhl unbedingt abkaufen. Aber ich ließ mich nicht überreden. Bevor meine Klassenkameraden und ich mit dem Bus nach Koblenz zurückfuhren, rief ich meine Eltern an und erklärte ihnen: „Bitte räumt den Kofferraum des Autos leer. Ich bringe etwas mit.“
Als sie mich und mein Souvenir am nächsten Tag in Empfang nahmen, schlugen meine Eltern die Hände über dem Kopf zusammen. Meine Mutter sagte nur: „Warum kommt unser Sohn eigentlich immer auf solche Ideen?“ Das gute Stück steht heute noch im Haus meiner Eltern. Wir haben ihn mal schätzen lassen. Er stammt aus dem Jahr 1815 und ist noch mit dem Originalstoff bezogen.
***
1979 musste ich nach den Sommerferien die Schule wechseln, da unser Gymnasium in Münstermaifeld geschlossen wurde und die Oberstufenschüler auf andere Gymnasien verteilt werden sollten. Ich hatte mir das Eichendorff-Gymnasium in Koblenz ausgesucht, denn dort gab es einen Musikleistungskurs. Wie immer war ich ein bisschen spät dran, die Anmeldefrist für das neue Schuljahr war bereits abgelaufen. Mein Vater fuhr also mit mir zum Direktor und schaffte es, mich doch noch einzuschleusen. Kaum hatte ich die Zulassung, bahnte sich jedoch schon die nächste Katastrophe an. Im Verhältnis zu unserem kleinen Gymnasium in Münstermaifeld mit seinen 300 Schülern gingen auf das Eichendorff-Gymnasium 900 Jungen und Mädchen. Jeder beäugte jeden. Mich kannte niemand. Ich war ein Schüler aus der Provinz, mehr nicht. Natürlich freundete ich mich mit Gleichgesinnten an. Mitschüler, die auch Musik als Hauptfach gewählt hatten. Doch von meiner großen Passion für die Musik wusste zunächst niemand etwas. Es war auch in dem Alter nicht gerade besonders hip, deutschen Schlager zu hören oder sogar selbst zu singen. Neu am städtischen Gymnasium, ein Landei und dann noch ein Schlagerheini, das überschritt bei vielen meiner Mitschüler einfach die Toleranzgrenze. Morgens nahm mich mein Vater, der in Koblenz arbeitete, im Auto mit. Am
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