100 Prozent Anders
Designer-Klamotten.
Ich liebte und liebe meinen Bruder und wollte nie den Eindruck erwecken, dass ich etwas Besonderes sei. Ich weiß nicht mehr, wann es war, aber viele Jahre später, während meines USA-Aufenthaltes, rief ich ihn an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Wir plauderten, und nach einer Weile fragte er mich: „ Wo bist du eigentlich?“ Ich sagte: „In Los Angeles.“ „Hey“, meinte er, „das Telefonat kostet ja ein Vermögen.“ „Ja, aber ich bin so viel unterwegs, da ist es egal, von wo aus ich anrufe, es ist dein Geburtstag“, erwiderte ich. „Weißt du“, fing er an, „nimm es mir nicht übel, aber nie in meinem Leben möchte ich mit dir tauschen. Immer unterwegs, ständig im Flugzeug, permanent ein neues Hotel. Ich bin froh, dass ich mein beschauliches Leben habe.“
Was für eine Aussage! Und was für ein Befreiungsschlag. Ich war baff. Achim hatte mir gezeigt, dass ich zwar meinen Traum lebe, aber dass mein Traum für andere weiß Gott kein Traum sein muss. Mir wurde klar, dass nicht ich mit meinem bekloppten Beruf das Zentralgestirn im Universum bin. Nein. Jeder Mensch findet sein Glück auf seine Weise.
Meine Schwester Tanja wiederum lebt eine Mischung aus Achims und meinem Leben. Sie arbeitet heute als Grafikdesignerin in München, wohnt dort mit ihrem Mann Fritz, ihrer dreijährigen Tochter Coco-Jolie und ihrem Sohn Laurien, der im Februar 2011 das Licht der Welt erblickte. Tanja und ich standen uns von Anfang an besonders nah. Ich wollte ja immer eine Schwester – Sie erinnern sich an die Sache mit dem Zucker und dem Storch? –, und der Altersunterschied zwischen uns beträgt „nur“ sieben Jahre. Zwischen Tanja und Achim liegen dreizehn Jahre, was beinahe schon eine andere Generation ist. Ich will aber hier nicht analysieren, wie Geschwisterliebe sich in Jahren definiert. Ich liebe meine Schwester genauso, wie ich meinen Bruder liebe. Ohne Wenn und Aber!
Ich jobbte in den Sommerferien in einem Hotel an der Mosel. Das Hotel „Krähennest“ stand in der Ortschaft Kattenes, etwa 4 km von Mörz entfernt. Es war ein beliebtes Hotel in der Gegend und wurde besonders an den Wochenenden von Touristen aus dem Ruhrgebiet besucht.
Ich war die Hilfe hinter der Theke. Zitronen- und Orangenscheiben schnippeln, Gläser spülen, Bier anzapfen und, wenn Not am Mann war, den Service hinterm Tresen machen. So stand ich auch an einem Samstagnachmittag wieder am Bierhahn und war nicht ganz so gut gelaunt wie sonst. Am Abend vorher hatte ich in Koblenz an einem Talentwettbewerb (heute würde man Casting dazu sagen) teilgenommen. Es fand im Rahmen einer RTL-Sonntagssendung mit Lou van Burg statt. Freitags wurden die Talente „gecastet“, der Sieger durfte sonntags in der Livesendung auftreten – und es winkte ein Schallplattenvertrag. Ich sang die deutsche Originalversion des Grand-Prix-Siegertitels „Kisses for Me“ von Brotherhood of Man. Ich war gut, nein, ich war klasse gewesen! Ich sang einwandfrei und legte eine tolle Performance hin. Aber als die Entscheidung verkündet wurde, war ich noch nicht mal unter den ersten Drei. Das tat weh! Überschätzte ich mich? War ich doch nicht so gut, wie ich selbst empfunden hatte? Ich war verzweifelt.
Mein Vater versuchte mir auf der Heimfahrt Mut zuzusprechen und tröstete mich. „Du warst gut, aber vielleicht suchen sie einen anderen Typ“, bemühte er sich, die Situation zu retten. „Ich war halt einfach nicht gut genug“, motzte ich zurück.
Einen Tag später stand ich nun also, versunken in meine Gedanken an den Vortag, an der Theke und zapfte Bier. Mein Chef rief, ich solle ans Telefon kommen, er habe einen Anruf für mich. Mein Bruder war am Apparat. „Hallo, Bernd, es haben eben Leute von RTL angerufen und wollten dich sprechen.“ – „Und was hast du gesagt?“ – „Dass du im Krähennest jobbst. Sie meinten, sie würden eventuell bei dir vorbeikommen.“ Ich war verdattert. Mmmh, was sollte das denn? Vielleicht wollten sie sich einen schönen Nachmittag machen, aber warum ausgerechnet bei mir?
Ab sofort war ich angespannt und leicht unkonzentriert. Ich beäugte jeden Gast, der sich vom normalen Publikum unterschied. Man will ja einen guten Eindruck hinterlassen, wenn wichtige Menschen aus der Branche vorbeischauen. Der Thekenbereich und das angrenzende Lokal waren stark besucht, und ich hatte alle Hände voll zu tun. Im Laufe des Nachmittags vergaß ich jedoch die eventuellen RTL-Gäste. Ein Bier hier, ein Wein dort,
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