100 Stunden Todesangst
hier. Wir sind höchstens einen Kilometer von der Straßensperre
entfernt. Und ich glaube nicht, daß die jetzt Feierabend machen — nur weil es
schneit. Gleich werden sie antanzen. Wir türmen querfeldein. Du hüpfst rechts.
Links stütze ich dich. Wenn du nicht mehr kannst, nehme ich dich auf die Schulter.
Dich und den Koffer. Daß wir im Schnee fast ersaufen, ist unser Glück. Der
deckt die Spuren zu. Selbst wenn du Blutspuren hinterläßt, ist da bald eine
Schicht drauf.“
Er zog den
Gürtel fest. „So das wär’s.“
Sascha
setzte den linken Fuß auf den Boden.
„Bevor du’s
abgebunden hast, fühlte ich mein Bein wieder. Jetzt ist es so tot wie mein
Urgroßvater.“
„Macht
nichts. Hauptsache, du behältst den Lebenssaft bei dir.“
„Du kannst
doch nicht ziellos in die Gegend tapern.“
„Nein. Aber
wir müssen weg von der Straße.“
Hartwig
stützte seinen Komplicen. In der anderen Hand hielt er den Koffer. Im rechten
Winkel entfernten sie sich von der Landstraße. Bis zum Knöchel sackten sie ein
im Schnee.
Wiesen und
Weiden erstreckten sich nach beiden Seiten. Sie mußten über Stacheldraht
steigen.
Nach kurzer
Strecke blickte Hartwig zurück.
Baum und
Autowrack waren hinter dem Schneevorhang verschwunden. Gut so! Also konnte man
auch sie von der Straße aus nicht sehen.
Sie hielten
sich parallel zu ihr.
Hartwig
kannte die Gegend. Zweimal änderte er die Richtung.
Bis
Birkenrode war es nicht mehr weit, wie er wußte. Leider kamen sie nur langsam
voran.
Sascha
stöhnte. Schwerer und schwerer hing er an seinem Komplicen.
Immer öfter
knickten dem Verwundeten die Knie ein. Er begann zu keuchen. Kalter Schweiß
lief ihm übers Gesicht.
„Du! Ich...
ich schaffs nicht. Mir... mir ist so schwach.“
„Nur noch
ein kurzes Stück, Junge. Gleich sind wir am Dorfrand. Ich rieche die ersten
Häuser bereits.“
„Und?
Willst du anklopfen und um ein Heftpflaster bitten?“
„Laß mich
nur machen.“
„Was hast
du vor?“ Sascha sprach mühsam.
„Daß die
Bullen bis jetzt noch nicht da sind, ist nur die Ruhe vor dem Sturm. Ich wette,
die ganze Gegend ist abgeriegelt. Straßensperren an jeder Kreuzung. Kontrollen.
Jede Minute arbeitet für die. Sie können eine Hundertschaft herankarren. Und
wenn sie noch ‘nen Hubschrauber einsetzen, ist die Falle auch nach oben dicht.
Ausgerechnet dieses Gebiet kann man gut überblicken. Sobald sie den Wagen
gefunden haben, sehen sie klar. Blutspuren und so. Sie werden vermuten, daß wir
uns irgendwo im Wald verstecken. Oder allmählich in einer Scheune erfrieren.
Sie werden suchen und suchen, und die Gegend bleibt abgesperrt. Das heißt, bis
zum Hauptquartier können wir uns vorläufig nicht durchschlagen.“
Sascha
lachte auf. „Bestimmt nicht.“
„Aber wir
brauchen ein Dach über dem Kopf. Und du brauchst Ruhe.“
„Wenn du
wüßtest, wie müde ich bin.“
„Eben.“
„Willst du
uns im Gasthof einquartieren?“
„Ich suche
uns ‘ne Hütte, in der wir uns verstecken können.“
„Ein leeres
Haus?“
„Glaube
nicht, daß hier irgendein Haus leer steht. Aber es gibt Rentner und alte
Tanten, die allein leben. Die leisten keinen Widerstand. Sie werden nicht
glücklich sein über uns als Einquartierung. Aber was sollen sie machen?“
„Die Bullen
verständigen.“
„Das
verhindere ich.“
Hartwig
blieb stehen.
Sascha wäre
weiter gestolpert, wurde aber festgehalten.
Sie standen
vor einem Zaun.
Dahinter
zeichneten sich kahle Büsche im Schneetreiben ab — und Obstbäume sowie ein
Schuppen. Oder war’s eine Laube?
„Dort
hinten ist das Haus“, stellte Hartwig fest. „Siehst du das Licht?“
„Ich sehe
Sterne“, murmelte Sascha. „Mann, habe ich die Kugel im Bein? Oder habe ich eins
auf die Birne gekriegt? Wo ist Licht?“
„Dort vorn.
Ein erleuchtetes Fenster. Bleib hier! Ich sehe mir das an.“
Er lehnte
den Verwundeten an den Zaun.
Sascha
hielt sich an den froststarren Latten fest. Sie knackten vernehmlich. Auf
seiner Uniformmütze sammelte sich Schnee.
Hartwig
lief am Zaun entlang.
Eine
schmale Straße endete hier. Also war es das letzte Grundstück am Ortsrand.
Er fand die
Gartenpforte.
Jetzt sah
er das Haus aus der Nähe.
Es machte
einen gemütlichen Eindruck, besaß ein Obergeschoß, war aber eher klein. Für
eine mehrköpfige Familie reichte der Platz nicht. Vermutlich wohnte hier ein
altes Paar. Dann konnte das die richtige Adresse sein — ausgenommen, der
Hausherr war pensionierter Polizist oder
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