100 Stunden Todesangst
anderer Hunderter war?“
„Ich hatte
auf dem Rand die Kartei-Nummer eines Hundepatienten notiert“, erwiderte Helga.
„Weil ich unterwegs war, telefonierte und keinen Zettel bei mir hatte. Und
nicht nur die Karteinummer, sondern auch den Zusatz Leptospirose (Leberentzündung). Dadurch war der Hunderter gekennzeichnet. Ich weiß auch noch, welchen Hund das
betraf. Den Alf vom Einsiedler. Ihr kennt doch Georg Lehmann?“
Locke
nickte. „Er macht auf Einsiedler, lebt einsam auf seinem Bauernhof. Mit Alf.
Manchmal hilft er der Oma. Doch meistens einsiedelt er nur.“
„Jedenfalls
hat ihn Oma zu mir geschickt, weil Alf kränkelte.“
„Geht’s ihm
wieder gut?“
„Sehr gut.“
„Mir geht’s
schlecht“, sagte Gunter. „Ich wollte entspannen. Aber wenn ich euch zuhöre,
flimmert es mir vor den Augen. Ich glaube, ich habe Leptospirose.“
„Nachher
impfe ich dich“, erwiderte Helga. „Aber es handelt sich dabei um eine
kombinierte Impfung. Du bist dann auch gegen Tollwut gefeit.“
„Das habe
ich mir schon immer gewünscht. Du solltest die Sache aufschieben. Das wäre doch
ein Weihnachtsgeschenk.“
„Geschenk?
Für die Impfung nehme ich 60Mark.“
Das Pärchen
kicherte.
Ein Kellner
räumte die Vorspeisenteller ab, ein anderer brachte gegrillte Seezunge für
Helga und gebackenen Tintenfisch für Gunter. Außerdem schenkte er Wein nach.
„Wir
sollten gehen“, meinte Tom, „bevor hier die Grätenschlacht losgeht. Oder seid
ihr uns dann böse?“
„Nein!“
sagte Gunter. „Wirklich nicht. Mach dir deshalb keine Gedanken. Wir haben
vollstes Verständnis dafür, daß ihr euch langweilt und endlich in die Heia
wollt. Bring meine Tochter nach Hause, Tom, und bleib vor der Tür, bis sie von
innen abgeschlossen hat. Die Welt ist voller schlechter Menschen.“
„Nur wir
vier sind gut“, sagte Locke. „Und Pappadopoulos.“
Sie verabschiedeten
sich.
Tom stellte
die Stühle an den Nebentisch zurück.
An der Tür
winkte Locke noch mal.
„Sind sie
nicht herzig, unsere Elternteile“, meinte sie, als Tom bereits den Schnee von
ihrem Mofa-Sattel wischte.
„Sie sind
einsame Spitze. Aber das dürfen wir ihnen nicht sagen, sonst befällt sie der
Größenwahn. Das und Leptospirose wäre zuviel.“
Die Straßen
waren jetzt wie leergefegt — die Schneeflocken feucht.
Sie konnten
nebeneinander fahren.
Locke
spähte unter ihrem Sturzhelm hervor. Seit es Vorschrift war, ihn zu tragen,
mußte sie auf ihre geüebten Florentiner Hüte verzichten. Aber sie glich das
aus, indem sie zu Hause den einen oder andern aufsetzte: während der
Hausaufgaben, beim Lesen, beim Fernsehen oder bei ihren Yoga-Übungen, sofern
diese eine aufrechte Haltung zuließen.
Klatsch!
Erschrocken
blickte Tom zur Seite.
Und Locke
wiederholte den Hieb, indem sie von oben mit flacher Hand auf ihren Helm
klatschte.
„Flash!
Erleuchtung! Das ist es. Wir sind ja wirklich bescheuert, Tom. Statt im Rhodos
zu ömmeln, könnten wir längst pofen — und die Sache dann morgen in aller Frühe
anpacken.“
„Welche
Sache?“
„Hast du
noch nicht daran gedacht, wie man 637 Mark ganz auf die Schnelle verdient?“
„Locke-Schatz!
Ich habe bereits gesucht. Gesucht, bis ich ganz dicke Augen hatte. Wie ein
Blöder bin ich die Strecke abgefahren: hin und her, hin und her, hin und her,
hin und…“
„Nicht wie
ein Blöder“, unterbrach sie ihn, „sondern als Blöder. Jedenfalls ohne
Überlegung.“
„Was meinst
du?“
„Das Kuvert
ist eingeschneit. Davon müssen wir ausgehen. Damit entzieht es sich den
Blicken. Aber zu riechen ist es durch die Schneeschicht. Bist du also auf allen
Vieren gekrochen und hast geschnüffelt? Nein! Wäre ja auch sinnlos gewesen.
Dein Riechkolben kann — bei geschlossenen Augen — allenfalls Veilchenparfum von
einer Bratwurst unterscheiden. Die 637 D-Mark hättest du nie erschnüffelt. Das
kann nur... na, wer?“
„Himmel!“
ärgerte sich Tom. „Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?“
„Ihr Männer
steht manchmal schwer auf der Leitung“, tröstete sie. „Mach dir nichts draus.
Hast ja noch mich. Also: Wann nehmen wir unseren Tiger an die Leine und düsen
nach Birkenrode.“
„Morgen
früh.“
„Gebongt.
Aber nicht vor dem Aufstehen.“
„Wird mir
eine Riesenerleichterung sein“, nickte Tom, „der Oma das Geld zurückzugeben.
Dann können wir auch die Geheimniskrämerei vergessen und unsere Elternteile
einweihen. Der Zwang, der Oma das Geld zurückzugeben — was sie nicht will
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