100 Tage Sex
dem anderen zukommen. Auch Freunde leiteten Blogs und Artikel an uns weiter. Manchmal flackerten Katastrophenszenarien durch die hinteren Winkel unserer Hirne. Krankheit? Sex ist Pflicht. Streit? Trotzdem vögeln. Lähmende Langeweile, wunde Geschlechtsteile, Blähungen? Keine Ausrede. Zu viel Sex - gab es so etwas überhaupt? Konnten hundert Tage Austausch von Körperflüssigkeiten irgendwie unsere Gesundheit schädigen?
Annie fand, wir sollten beide unsere Hausärztin konsultieren. Annie bewunderte sie und vertraute ihr blind. Die Hausärztin, die gleichzeitig auch Annies Frauenärztin war, riet ihr zur Pille. Die letzten Jahre hatten wir Kondome benutzt. Mir war die Vasektomie-Geschichte unheimlich, Annie ging es mit der Pille ähnlich. Für den Marathon stieg
sie aber gerne wieder auf die Pille um, vor allem, nachdem die Ärztin ihr ein schonendes Präparat empfohlen hatte, mit dem sie, besonders verlockend für Annie, auch bis zu vier Monate lang ihre Periode ausfallen lassen konnte. Zusätzlich empfahl die Ärztin ihr, jeden Tag Acidophilus zu essen, entweder im Joghurt oder über Nahrungsergänzungsmittel. Diese Bakterien sollten dazu beitragen, Annies Vagina im »Gleichgewicht« zu halten. Gleich nach dem Sex pinkeln. Tagsüber viel Wasser trinken, dann wird abends alles schneller feucht. »Und Gleitmittel«, sagte sie. »Nehmt massenweise Gleitmittel.«
»Warum?«, fragte Annie erstaunt.
»Wie soll ich’s erklären«, sinnierte die Ärztin. »Bekanntlich schmecken zwei Kugeln Eis allein schon toll, aber mit Schokosoße, Schlagsahne und einer Kirsche obendrauf schmecken sie noch viel besser.«
»Richtig«, stimmte Annie zu.
»Gut, dann wissen Sie jetzt, warum Sie sich Gleitmittel besorgen sollen. Ach, und eines noch: Vergewissern Sie sich, dass das Schloss an der Schlafzimmertür funktioniert.«
Auch ich vereinbarte einen Termin bei ihr.
»Essen Sie Zitrusfrüchte und Tomaten«, empfahl sie. Sperma ist basisch, Annies Vagina ist sauer. Ein Mangel an Säure könne Annies Vagina stören. »Ach, und gehen Sie in einen Sexshop, bevor es losgeht«, riet sie. »Kaufen Sie etwas, um die Sache hin und wieder ein wenig, Sie wissen schon, aufzupeppen.«
Annie und ich hatten schon geplant, verschiedene Sexartikel auszuprobieren, ich wusste also, was die Ärztin meinte. Aber warum gehörte das mit dem »Aufpeppen« zu ihren ersten Empfehlungen? War es so offensichtlich?
»Verstanden«, sagte ich und starrte auf den Boden.
»Wie steht’s mit ›Vitalitäts-Kräutern‹ für Männer?«, fragte ich. »Die sind unbedenklich, oder?«
»Wahrscheinlich«, meinte sie. »Nur zu.«
Ich folgte ihr aus dem Sprechzimmer in das verwinkelte Reich der Schwestern und Sprechstundenhilfen in rosafarbenen und violetten Kitteln und weißen Clogs.
»Ach, wie konnte ich das vergessen«, rief die Ärztin plötzlich. »Viagra! Sie müssen mal Viagra ausprobieren!« Sie ging in ein Kämmerchen und kam mit einer Tüte voll Pillen wieder heraus. »Wenn die Erektion unangenehm lange andauert, rufen Sie im Krankenhaus an.«
Sofort schoss mir das Bild ins Hirn, wie ich mit einem Mordsständer vornübergebeugt in der Notaufnahme sitze, neben einem Jungen, der sich den Arm gebrochen hat, und einem kleinen Mädchen mit aufgeschlagenen Knien. Panisch würden die Eltern ihre Kinder vor diesem bösen Mann, der das ganze Übel der heutigen Gesellschaft verkörperte, in Sicherheit bringen.
Die Begeisterung der Ärztin für unser Projekt spornte uns noch an. Wir kauften »luststeigernde« Kräutermischungen für mich, und Annie investierte in Aromaöle für unsere gemeinsamen Vergnügungen in der Badewanne. Wir kauften Kerzen und Duftstäbchen fürs Schlafzimmer, das wir in eine »Liebeshöhle« zu verwandeln beschlossen. Das Elternschlafzimmer - beigefarbene Wände, beigefarbener Teppich, billige Jalousien - versprühte zwar keinen Charme, verfügte aber über einen großen begehbaren Schrank (eine Neuheit für uns) und ein eigenes Bad mit der größten Badewanne, die wir je gehabt hatten. Und mit seiner hohen Decke und dem großen Fenster hatte der Raum durchaus Potenzial.
»Schau mal«, forderte Annie mich eines Abends auf. Sie führte mich ins Schlafzimmer hinauf. »Und staune«, sagte sie.
Ich staunte.
»Fällt dir auf, dass die Fotos weg sind?«, fragte sie. »Ich habe sie weggeräumt. Keine Eltern, keine Kinder, keine Omas und Opas. Die haben wir alle lieb, aber in unserem Heiligtum haben sie nichts verloren.«
Ich wanderte durch
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