100 Tage Sex
den Raum und bewunderte ihre Arbeit. Der neue Bettüberwurf wies ein fröhliches indisches Muster auf. Der Korb mit Hanteln und anderen Fitnessgeräten war unter dem Bett verschwunden. Die Bücher standen ordentlich auf ihren Regalbrettern. Das wilde Gewusel von Elektrokabeln war versteckt worden. Auf dem Sekretär stand ein neuer Halter mit einer frischen Auswahl an Räucherstäbchen und -kegeln. Auf den Nachttischen standen parfümierte Massageöle und Körperlotionen.
Ein bunter Überwurf verdeckte den Fernseher.
»Kein Fernsehen?«, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.
»Doch. Nur will ich das Ding nicht sehen, wenn wir es nicht benutzen«, antwortete Annie. »So schön ist es nämlich wirklich nicht.«
An einem strahlenden Sonntagnachmittag kam ich gerade vom Laufen zurück. Annie sah vom Plätzchenteig auf, den sie eben ausrollte - Weihnachten stand vor der Tür, und die ganze Familie tendiert in der Adventszeit zu Backexzessen -, und sagte: »Übungen.«
»Übungen?«, wiederholte ich verständnislos.
»Wir haben noch nicht über Übungen geredet.«
Ich musterte sie einen Moment lang, unsicher, worüber wir genau sprachen. An diese Art Dialog hatte ich mich über die Jahre gewöhnt: Annie sagt etwas Mysteriöses, ich mustere sie und frage mich, worüber wir reden.
»Wie schon gesagt, werde ich während des Marathons regelmäßig laufen gehen, ganz klar«, antwortete ich. »Vielleicht laufe ich sogar längere Strecken, außer es erschöpft mich zu sehr. Und nicht zu vergessen das Hanteltraining.«
»Guter Plan«, sagte sie. »Und Yoga. Du solltest Yoga machen.«
»Yoga«, flüsterte ich fast unhörbar. Sofort sprang mich ein schauriges Bild an: ich barfuß, in Shorts und T-Shirt, den Hintern hoch in die Luft gestreckt - beobachtet von einem Raum voller Frauen. Unerquicklich!
»Ich mache auf jeden Fall Yoga, ich verspreche mir für den Marathon sehr viel davon«, verkündete Annie. »Der Aschram, den wir im Januar besuchen, bietet Yoga an, und ich werde mitmachen. Kennst du das Yogastudio bei uns in der Straße? Die machen Bikram-Yoga bei einer Raumtemperatur von bis zu 40 Grad. Wenn du das Studio verlässt, bist du elastisch wie ein Gummiband. Und die Wärme fühlt sich bei der Kälte draußen großartig an. Probier es aus, es gefällt dir bestimmt. Was meinst du?«
Ihre Augen? Riesig wie die eines Welpen. Ich glaube, sie klimperte sogar mit den Wimpern. Ihre Stimme? Wie Honig. Ich bin nicht gerade ein Stoiker. Eher ein hoffnungsloser Naivling, ein Gottesgeschenk für mäßig talentierte Verkäufer und durchtriebene Mitmenschen (und Gattinnen).
»Yoga«, sagte ich. »Ach, was soll’s! Wie peinlich kann es denn schon werden?«
Allerdings beanspruchten nicht nur unsere Körper Aufmerksamkeit. Wir mussten auch unseren Geist einstimmen. Also begannen wir, die öffentliche Bibliothek von Denver nach geeigneten Buchtiteln zu durchsuchen. Wir fanden Bücher über altägyptische Sexstellungen und über die traditionelle japanische Herangehensweise. Ich las sie alle. Wir entliehen Dutzende Bücher, jedes Mal eine spannende Exkursion. Denn jedes, wirklich absolut jedes Mal stand hinter mir ein altes Mütterchen in der Schlange. Wie im Klischee rochen sie sämtlich nach Flieder, ihre Haare waren zu weißen Riesenbaisers aufgetürmt, und sie umklammerten schmucklose Handtaschen. So standen sie einen Meter hinter mir, während ich Strichcodes unter Lasern durchzog und die Titel am Monitor erschienen: Der Yin-Yang-Schmetterling - altchinesische Sexgeheimnisse für Liebende im Westen ; Lover’s Guide durch das Kamasutra ; Pure Lust und Leidenschaft - Multiorgasmen für jede Frau (ich denke immer an Annie). Dann stopfte ich meinen Bücherstapel in eine Plastiktasche und schlich mich davon, weg von dem Mütterchen in ihrem Wollrock.
Doch trotz all dieser neuen Konzentration auf die fleischliche Welt änderte sich die Quantität unserer sexuellen Begegnungen nach unserem Ausflug zur Blockhütte nicht.
»Hältst du das für ein Problem?«, fragte Annie eines Abends während unserer »Trainings«phase. »Wir schlafen nicht öfter miteinander als sonst.«
Ich nahm einen großen Schluck India Pale Ale, ein Bier, das Annie und ich wegen seiner fast safranartigen Bitterkeit schätzten.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht.«
Ein knappes halbes Jahr zuvor war ich vierzig geworden. Ich feierte den Sommertag, an dem ich mich von den gesegneten Dreißigern verabschiedete, und erzählte allen Leuten:
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